Der Regisseur ist wichtiger als das Skript
Die Sci-Fi-Komödie „Poor Things“gilt als heißer Oscar-Kandidat. Schauspiellegende Willem Dafoe spricht im Interview über seine Rolle als Frankenstein-Verschnitt
Am 23. Januar wird verkündet, wer in diesem Jahr auf einen Oscar hoffen kann. Und mit jedem Tag steigt die Spannung. Fest steht, dass „Poor Things“ganz oben mitmischen wird. Die Sci-Fi-Komödie des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos um eine junge Frau, die vom Tod erweckt wird und das Leben entdeckt, gewann als klarer Favorit die diesjährige Mostra di Cinema in Venedig. Auch bei den Golden Globes konnte der Film, der nun in den hiesigen Kinos läuft, überzeugen. Neben Lanthimos und Hauptdarstellerin Emma Stone gilt Willem Dafoe als Oscarkandidat.
William Dafoe, hatten Sie bereits während des Drehens eine Ahnung, wie einzigartig dieser Film sein wird?
Nein. Aber ich kannte die Arbeit von Yorgos Lanthimos, dann war das Drehbuch ein Traum und auch der Prozess des Drehens selbst machte große Freude. Ich konnte also meine Kästchen abhaken. Dieser Film hat so viele Besonderheiten, dass ich mich wirklich freue, dass er bisher so viel Applaus bekam. Aber erst, wenn er für das Publikum zugänglich ist, wird man sehen, wie er in den einzelnen Ländern ankommt.
„Poor Things“ist darstellerisch und visuell eine Wucht. Wie machten Sie sich die schräge Welt Ihres Wissenschaftlers Godwin Baxter zu eigen, den Sie verkörpern?
Die größte Hilfe bot mir das Drehbuch, weil die Welt von „Poor Things“darin so vollständig und reich beschrieben war. Allein „mein“Haus war so detailliert, dass ich oft durch die Kulissen spazierte, um die Kleinigkeiten zu bestaunen. Ich bin sowieso jemand, der gerne auch in den Pausen am Set bleibt, statt im Trailer zu sitzen. Lieber schaue ich der Crew über die Schulter, so gräbt man sich noch tiefer in die Geschichte hinein. Es gab viele Gegenstände, mit denen ich spielen konnte, Dinge, die mir verrieten, wie meine Figur zu sein hatte. Sie wurden „meine“Gegenstände und halfen sehr, um diese künstliche Welt zu artikulieren.
Noch stärker als Ihr ausdrucksvolles Makeup? Ihr Gesicht ist von Narben und Nähten gezeichnet, mit verschobenen, kubistischen Gesichtszügen ...
Natürlich ist das Make-up eine grandiose Maske – in jedem Sinn. Wenn ich stundenlang auf dem Make-up-Stuhl sitze, sehe ich zu, wie ich immer mehr verschwinde und jemand anderes zum Vorschein kommt. Das hilft mir sehr beim Vortäuschen: Wenn du nicht aussiehst wie du selbst und dich anders fühlst, musst du jemand anderes sein.
Wie lange saßen Sie jeden Tag in der Maske?
Das verrate ich nur ungern. Die Zahl soll keinen Zuschauer ablenken, und letztlich ist es doch egal, ob es zwei oder sechs Stunden waren. Schauspieler nörgeln ja ganz gern, wie strapaziös ein Dreh war, aber hey, wir haben doch einen so tollen Beruf! Ja, sicher, es war schon ziemlich lang. Man kann währenddessen ja auch nicht schlafen oder sich mit etwas Sinnigem beschäftigen. Ich war oft viele Stunden vor den anderen am Set.
Sie spielen den Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter, der die Tote zum Leben erweckt hat. Was für eine Vorbereitung erforderte die Rolle als Wissenschaftler mit Frankenstein'schen Zügen?
Ich musste lernen, all das zu tun, was Baxter als Chirurg so tut. Also war ich in einer Leichenhalle und habe von einem Spezialisten gelernt, wie man fachkundig Schnitte macht und näht. Das klingt etwas daneben. Auch wenn wir sein Handwerk nicht so genau sehen, half mir dieses Training, um in den Szenen effizient zu sein und mich selbst zu überzeugen, dass ich den Chirurgen durchaus gut vortäuschen kann.
Sie arbeiten gern mit denselben Regisseuren wie Wes Anderson oder Robert Eggers. Mögen Sie Routine oder wollen Sie tiefer in deren kreative Prozesse eintauchen?
Es macht Freude, wenn man sich versteht, wenn man das tut, was der andere will und man die Ergebnisse mag. Ich schätze die Sicherheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Man investiert ja viel Zeit, bis man einer gemeinsamen Sprache vertrauen kann, die für alle zu guten Ergebnissen führt. Ich bin gerne ein Bestandteil im Vokabular eines Regisseurs. Dann bekommst du andere Aufgaben, weil du eine feste Variable bist und damit Teil ihrer Kreation. Wenn du eine verlässliche Farbe auf ihrer Palette bist, wirst du Teil ihrer Ikonographie.
Wie läuft es dann mit jungen Regisseuren? Newcomern wie Olmo Schnabel, in dessen Erstling „Pet Shop Days“Sie mitwirkten?
Olmo war der Produktionsassistent seines Vaters, auf dem Set von Julian Schnabels „At Eternity‘s Gate“...
... in dem Sie mit einer noch nie dagewesenen Zugänglichkeit Van Gogh spielten.
Mir tut es gut, auch mit Filmemachern einer anderen Generation oder mit einem anderen Background zu drehen. So kann ich vermeiden, dass der Erfolg mich doch ein wenig korrumpiert, bequem oder müde werden lässt. Junge Regisseure haben weniger Skills, weniger Selbstvertrauen, weniger Erfahrung und sicher noch andere Minuspunkte – aber sie verströmen eine besondere Energie. Und Hoffnung. Das höre ich lieber als die Klagen der Älteren.
Erstaunt es Sie, wie schnell die Filmindustrie sich verändert?
Es scheint leider nur noch darum zu gehen, wie wir Filme sehen. Ich jammere der Vergangenheit nicht gern nach – aber ich schätze tatsächlich das Erlebnis, in ein
Filmtheater zu gehen, mit Unbekannten im Dunkeln zu sitzen, bis dann Licht auf der Leinwand aufblitzt und wir gemeinsam zum Träumen verleitet werden.
Ein Handy als Filmleinwand ist für Sie ein No-Go?
Es geht gar nicht um die Größe, sondern um die Aufmerksamkeit. Wenn man zuhause etwas per Streaming sieht, erhält es eine andere Konzentration als wenn man extra dafür aus dem Haus geht und nachher darüber diskutiert.
Man schafft einen Aufmerksamkeitsrahmen, in dem man überlegt, mit wem man den Film sehen möchte oder dass man danach etwas essen geht. Diese soziale Dynamik fehlt zuhause. Dort wird jeder Film behandelt wie eine Soap-Opera. Ich
: Wenn du nicht aussiehst wie du selbst und dich anders fühlst, musst du jemand anderes sein.
finde das kollektive Erlebnis sehr wichtig. Kino verleiht uns Menschlichkeit.
Kommen Sie auch mit Misserfolgen so souverän klar?
Man weiß nie, worauf man sich einlässt und wie ein Film wird. Aber man trifft die Wahl, mit wem man Zeit verbringen möchte. Das ist die beste Versicherung, um keine Zeit zu vergeuden. Selbst wenn ein Film floppt, konnte ich die Gesellschaft von Künstlern und ihre Stimuli genießen. Daher ist der Regisseur für mich immer ein stärkeres Kriterium als das Skript.
Sie betreiben seit Jahren Ashtanga Yoga und wirken live extrem drahtig. Wirkt sich Yoga auch positiv auf Ihr Spiel aus?
Sicher. Wenn man das richtige Atmen trainiert und die Konzentration, resultiert daraus dann alles andere ganz entspannt. Ich trainiere jeden Tag, es macht mich innerlich stark und geschmeidig. Ich brauche ein funktionierendes Instrument, und Yoga überprüft mein Inventar.