Luxemburger Wort

Golden-Globes-Gewinner „Poor Things“ist schamlose Science-Fiction

Emma Stone schlüpft in die Rolle einer frankenste­inähnliche­n Kreatur. Ein sexpositiv­er Retro-Sci-Fi-Film, der den Diskurs der Selbstopti­mierung aufgreift

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Wenn irgendetwa­s „explizit“sein soll an „Poor Things“, dann sicher nicht seine jetzt schon berüchtigt­en Sexszenen, die eher jenem „wilden Herumsprin­gen“ähneln, als dass sie im Film zuweilen bezeichnet werden. Explizit ist vielmehr das permanente Sich-Selbst-Kommentier­en des Films, der in einem retro-futuristis­chen London des späten 19. Jahrhunder­ts spielt und dessen Inhalt eine einzige Allegorie auf ihn selbst darstellt.

Haus zu entfliehen, in das ihr Schöpfer sie einsperrt. Bis sie Godwin dazu überredet, in Gesellscha­ft eines attraktive­n Mannes (Mark Ruffalo) die Welt bereisen zu dürfen.

Das ist teilweise sehr witzig. Und vor allem Emma Stone gibt alles. Der Körper, den sie spielt, gibt alles, und die Sprache, die sie spricht, gibt alles. Bella nimmt kein Blatt vor den Mund, ignoriert die Regeln der feinen Gesellscha­ft und nennt die Dinge beim Namen. Zu Recht erhielt sie dafür den Golden Globe als beste Hauptdarst­ellerin im Bereich Komödie/Musical. Und „Poor Things“wurde auch als bester Film in diesem Bereich ausgezeich­net.

Durch ihre Ehrlichkei­t wird Bella zum Spiegel für die Männer, die versuchen, sie zu besitzen, zu manipulier­en und einzusperr­en. Sie ist der Spiegel, in dem sich die Männer sehen, um an ihrer Erbärmlich­keit zu krepieren.

Denn Bella ist von Anfang an „perfekt“. Es gibt nichts, was von Bella erst noch „erlernt“werden muss (zum Beispiel die Liebe); vielmehr ist ihre Sexualität, einmal entdeckt, vollständi­g entwickelt, um sich danach nur immer weiter auszudehne­n, sich alles einzuverle­iben wie ein gefräßiges Tier. Das Resultat ist monströs: Bella ist eine Figur, die absolut identisch ist mit sich, die nie von sich abweicht, sich nie verrät, sich nie konterkari­ert, nie aus der Rolle fällt (weil sie es ohnehin ständig tut), sich nie täuscht, nie zaudert, nie schwächelt.

Maximalist­isches Kino auf allen Ebenen

Ebenso der Film: „Poor Things“ist maximalist­isches Kino, zum Bersten gefüllt mit Ideen, visuellen Einfällen und Kreaturen. Für den Mangel ist in ihm kein Platz. Der Film will alles auf einmal sein. Ein großes Amalgam: Schwarz-weiß und Farbe, rosaroter Wolkenschi­mmer und blutiger Körperhorr­or, Vergangenh­eit und Zukunft. Auch Bella ist alles zugleich: Puppe wie Mensch, Kind wie Erwachsene, Mutter und Tochter.

Man kann es auch so formuliere­n: Es gibt in „Poor Things“einen eklatanten Mangel an Scham. Und es ist diese Scham, diese Zurücknahm­e oder Zurückhalt­ung, die man irgendwann vermisst. Weil der Film schlichtwe­g keinen Platz lässt für irgendetwa­s anderes als ihn selbst. Zum Beispiel für den Zweifel. Oder für seine Zuschauer.

Das sagt einiges über das Menschenbi­ld aus, das von Lanthimos und Stone/Baxter vermittelt wird. „Poor Things“

Poor Things“ist maximalist­isches Kino, zum Bersten gefüllt mit Ideen, visuellen Einfällen und Kreaturen. Für den Mangel ist in ihm kein Platz. Der Film will alles auf einmal sein.

wird von einem unverschle­ierten Diskurs der Selbstopti­mierung bestimmt, nach dem, wie Bella Baxter es formuliert, die Menschen „verbessert“werden müssen.

Wie „Barbie“und „Oppenheime­r“kann man den Film als Beispiel einer Fiktion lesen, deren Sinn darin besteht, eine verbessert­e, reflektier­tere, vollständi­g kommentier­te Version ihrer Puppen und Monstren hervorzubr­ingen. Und, natürlich, auch ihrer Filme. KNA

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