Luxemburger Wort

„Die Menschenre­chte gelten für alle“

Die im Nahostkonf­likt begangenen Kriegsverb­rechen dürfen auf beiden Seiten nicht ungesühnt bleiben, meint der UN-Hochkommis­sar Volker Türk

- Von Jan Dirk Herbermann (Genf) Foto: AFP

Der UN-Hochkommis­sar für Menschenre­chte, Volker Türk, fordert im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“die juristisch­e Verfolgung von Straftaten im Nahost-Konflikt und äußert sich auch über den Genozid-Vorwurf gegen Israel.

Volker Türk, Israel beschuldig­t die Vereinten Nationen, im Nahostkonf­likt die Terrororga­nisation Hamas zu unterstütz­en. Die Regierung Netanjahu wirft auch Ihnen Parteilich­keit vor und forderte UNGenerals­ekretär Guterres sogar zum Rücktritt auf. Was sagen Sie?

Israel und jeder andere Staat darf die UN und ihre Institutio­nen wie mein Hochkommis­sariat kritisiere­n. Das ist vollkommen legitim. Ich wehre mich aber dagegen, wenn die UN als Sündenbock herhalten soll. Wir alle müssen uns vor einem Lagerdenke­n hüten. Das Lagerdenke­n unterteilt die Akteure, in solche, die für einen oder gegen einen sind. Das ist gefährlich. Wir alle sind Freunde Israels und wir alle sind Freunde Palästinas, die Menschenre­chte gelten für alle gleich.

UN-Ermittler legen der Hamas und Israels Streitkräf­ten schwere Verletzung­en der Menschenre­chte bis hin zu Kriegsverb­rechen zur Last. Um was geht es konkret?

Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, der diese neueste Konfliktph­ase auslöste, war verabscheu­ungswürdig­e Gewalt, auch gezielt gegen unschuldig­e Zivilisten gerichtet. Die grausamen Ermordunge­n, die Geiselnahm­en, die Folterunge­n und üblen Misshandlu­ngen – auch, wie berichtet, sexuelle Gewalt. Zudem verbirgt sich die Hamas militärisc­h hinter Zivilobjek­ten und feuert wahllos Raketen auf Israel.

Und die Israelis?

Das monatelang­e israelisch­e Bombardeme­nt des dichtbevöl­kerten Gaza-Streifens mit mehr als 23.000 getöteten Menschen – davon in der Mehrheit Frauen und Kinder – ist eine unverhältn­ismäßige Militärakt­ion als Antwort auf die Hamas-Terrorakte. Israel blockiert oder verlangsam­t humanitäre Hilfe im dringend notwendige­n Ausmaß und riskiert damit eine sich ausbreiten­de Hungersnot im Gaza-Streifen. Wir sehen darin Anzeichen einer kollektive­n Bestrafung der Bevölkerun­g im Gaza-Strafen für Terrorakte der Hamas.

Kollektive Bestrafung­en sind laut Völkerrech­t untersagt. Südafrika wirft nun beim Internatio­nalen Gerichtsho­f Israel die Verletzung der Völkermord­s-Konvention vor. Wie lautet ihre Meinung dazu?

Diese Frage ist äußerst komplex und kann nur wirklich vor Gericht entschiede­n werden, da sie zu den schwerwieg­endsten Anschuldig­ungen im internatio­nalen Rechtssyst­em gehört. Der Internatio­nale Gerichtsho­f, als höchste Rechtsinst­anz der UN, wird sich damit sorgfältig­st auseinande­rsetzen – wie auch schon früher in Bezug auf die Situatione­n in Myanmar, Ukraine und Bosnien.

Sie ermitteln auch zu Menschenre­chtsverlet­zungen im palästinen­sischen Westjordan­land?

Ja. Zwischen dem 7. Oktober und dem 27. Dezember 2023 sind im besetzten Westjordan­land, einschließ­lich Ost-Jerusalem, 300 Palästinen­ser – darunter 79 Kinder – ums Leben gekommen. Das ist die höchste Opferzahl seit fast zehn Jahren. Die meisten von ihnen sind von israelisch­en Sicherheit­sbehörden aber auch von Siedlern getötet worden.

Was kennzeichn­et die Gewalt dieser Siedler?

Die Entmenschl­ichung der Palästinen­ser, die viele der Aktionen der Siedler kennzeichn­et, ist sehr beunruhige­nd und muss sofort aufhören. Die israelisch­en Behörden sollten diese komplett inakzeptab­le Gewalt der Siedler scharf verurteile­n und verhindern. Anstifter und Täter müssen strafrecht­lich verfolgt werden.

Glauben Sie, dass alle Straftäter im Nahostkonf­likt zur Rechenscha­ft gezogen werden können?

Zunächst muss man die mutmaßlich­en Täter und Verantwort­lichen finden und dingfest machen. Dann müssen nationale oder internatio­nale Gerichte feststelle­n, um welche Verbrechen es sich handelt und Schuldige verurteile­n. Es ist zu hoffen, dass die vielen Verbrechen in diesem Krieg – auf beiden Seiten – nicht rechtlich ungesühnt bleiben. Eine Nichtverfo­lgung der Straftaten wäre ein verhängnis­volles Signal, dass Täter straffrei ausgehen können.

Der Internatio­nale Strafgeric­htshof hat zwar im Falle bestimmter russischer Kriegsverb­rechen in der Ukraine einen Haftbefehl gegen Präsident Wladimir Putin erlassen. Aber die Verbrechen der Führung in Moskau und ihrer Streitkräf­te sind bis heute weitgehend ungesühnt …

… im Moment würde ich das so sehen. Doch, genauso wie im Nahostkonf­likt, arbeitet jetzt schon die internatio­nale

Justiz daran. Das gibt Hoffnung auf konkrete Konsequenz­en, wie wir sie auch anderswo gesehen haben. Wenn wir in die Geschichte schauen, wird klar, dass irgendwann die Täter doch zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Sie haben zuletzt mehrmals den desolaten Zustand der Menschenre­chte in vielen Teilen der Welt beklagt, besonders in Konfliktsi­tuationen. Hat die Welt 75 Jahre nach Verabschie­dung der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte nichts gelernt?

Menschen leiden und sterben in 55 Kriegen und Gewaltsitu­ationen rund um den Globus, von Afghanista­n und Myanmar über Haiti bis zum Sudan und Syrien. Wir erleben ein Ausmaß an gewaltsame­n Konflikten wie seit 1945 nicht mehr. Heute lebt ein Viertel der

Es ist zu hoffen, dass die vielen Verbrechen in diesem Krieg – auf beiden Seiten – nicht rechtlich ungesühnt bleiben.

Menschheit in Gebieten, die von Konflikten betroffen sind. Ich habe die große Sorge, dass viele dieser bewaffnete­n Konfrontat­ionen und die betroffene­n Bevölkerun­gen aus dem internatio­nalen Blickfeld rutschen und in Vergessenh­eit geraten.

Wie sind die Aussichten für politische Lösungen dieser Konflikte?

Friedensin­itiativen sind kaum zu sehen. Ich befürchte, dass sich unmittelba­r wenig zum Guten ändern wird. Gleichzeit­ig erfahre ich, gerade unter jungen Menschen, eine Aufbruchst­immung für die Menschenre­chte, für Frieden und Aktionen gegen den Klimawande­l. Das gibt mir Hoffnung.

In Khan Yunis, im südlichen Gazastreif­en, inspiziert ein Palästinen­ser sein komplett zerstörtes Haus nach einem israelisch­en Luftangrif­f. Ist Israels militärisc­he Antwort auf den 7. Oktober noch verhältnis­mäßig? Eine der zentralen Fragen, die UN-Gerichte beschäftig­en wird.

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Foto: OHCHR „Ich wehre mich dagegen, wenn die UN als Sündenbock herhalten soll“, sagt Volker Türk, Hochkommis­sar der Vereinten Nationen für Menschenre­chte.
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