Luxemburger Wort

Mutter werden und sich nicht darüber freuen: Immer noch ein Tabu?

Die junge Regisseuri­n Christine Muller über „La Visite“, ein intensives Stück von Anne Berest, das mitten ins Herz führt und derzeit im TOL aufgeführt wird

- Von Marc Thill

Eine junge Mutter und eine aufdringli­che Familie. Das beschreibt die französisc­he Schriftste­llerin Anne Berest in ihrem Theaterstü­ck „La Visite“, das derzeit im Théâtre Ouvert Luxembourg aufgeführt wird. „La Visite“ist ein explosiver, roher und ungefilter­ter Monolog, in dem das Ideal des Mutterwerd­ens infrage gestellt wird. Das Stück widersetzt sich ganz klar den Erwartunge­n der Gesellscha­ft, die will, dass eine Mutter sich über die Geburt ihres Kindes nur freuen kann. Tut sie das nicht, wird sie als schlechte Mutter bezeichnet.

Anne Berest, die mit ihrem letzten Roman „La carte postale“nahe dran war, den Prix-Goncourt in Frankreich zu gewinnen, gilt als eine wichtige Stimme in der aktuellen französisc­hen Literatur. Sie ist bekannt für ihren lebendigen, prägnanten und introspekt­iven Schreibsti­l. 2020 hat sie „La Visite“für die Schauspiel­erin Lolita Chammah, Tochter von Isabelle Huppert, geschriebe­n und auch selbst inszeniert. Nun hat sich die junge Luxemburge­r Schauspiel­erin Christine Muller dem Stück angenommen und für das Théâtre Ouvert Luxembourg (TOL) inszeniert. Es ist ihre erste Inszenieru­ng. Auf der Bühne trägt Schauspiel­erin Rosalie Maes den Monolog vor.

Ein Tabu brechen

„Ich finde es interessan­t, sich mit Tabus auseinande­rzusetzen“, sagt Christine Muller, die wir vor der Premiere des Stücks trafen. „Es ist immer noch ein Tabu; eine Frau hat sich nach der Geburt ihres Kindes zu freuen.“Christine Muller meint auch: „Viele Frauen, die ein Kind zur Welt bringen, stellen sich nicht zwangsläuf­ig die Frage, ob sie wirklich auch dieses Kind haben wollten, und auch im Stück hat sich die Frau diese doch sehr wichtige Frage nicht gestellt.“

Das Eingehen einer Partnersch­aft ist eine erste Etappe. Das Kinderkrie­gen dann eine zweite Etappe, die sich oft nahtlos anschließt. „Es kann natürlich der Wunsch der Frau sein, ein Kind zu bekommen; es kann aber auch sein, dass sie denkt, ihr Partner wolle dieses Kind; oder es sind die Eltern, also die künftigen Großeltern, die Erwartungs­druck ausüben“, meint die Theaterreg­isseurin. „Ursachen für Kinder zu bekommen gibt es zuhauf. Ob aber der Wille

der Frau dabei berücksich­tigt wird, ist nicht immer klar.“

Das Stück von Anne Berest will deutlich machen, dass sich eine Mutter durchaus eingestehe­n darf, dass sie über die Geburt ihres Kindes nicht erfreut ist. „Deswegen brauche sie sich aber keine Vorwürfe zu machen. Und gerade wenn sie es hinbekommt, das zu akzeptiere­n, schafft sie es am Ende auch, ihr Kind zu akzeptiere­n, obwohl sie zunächst nicht himmelhoch­jauchzend über diese Geburt war“, so Christine Muller. Die gute Mutter gebe es ihrer Ansicht jedenfalls nicht, das sei nur ein Stempel, den die Gesellscha­ft den Frauen auferlegt habe, fügt die Regisseuri­n hinzu.

Radikalitä­t und Revolte

Véronique Fauconnet, die künstleris­che Direktorin des TOL, war an Christine Muller herangetre­ten und hatte sie gefragt, ob sie dieses Stück fürs TOL inszeniere­n wolle. Es gibt kaum andere Inszenieru­ngen davon, als die der Autorin selbst, denn das Bühnenstüc­k ist erst von 2020. „Da trägt man schon eine gewisse Verantwort­ung mit“, sagt Christine Muller etwas nachdenkli­ch. Noch während der Proben hatte sie den Text vor Augen, und da sind ihr immer wieder neue Dinge, kleine versteckte Elemente aufgefalle­n. „Wenn das in einem Bühnenstüc­k der Fall ist, wenn man ihn unter vielen unterschie­dlichen Aspekten inszeniere­n kann, dann ist es ein wirklich guter Text“, so Christine Muller.

Es war für die Regisseuri­n auf jeden Fall schnell klar, in welche Richtung sie das Stück inszeniere­n werde, erzählt sie und verweist auf Rebellion und Revolte. Mit 16 Jahren kam sie erstmals in Berührung mit der darstellen­den Bühnenkuns­t, wurde von Myriam Muller und Marja-Leena Junker entdeckt und geschult, hat parallel dazu aber auch internatio­nales Recht und Menschenre­chte studiert – und das in allen Ecken der Welt, von Hong-Kong bis Lissabon. „Ich

wollte immer die Welt verbessern. Man muss gegen das Schlechte in der Gesellscha­ft ankämpfen, und es ist auch wichtig, eine gewisse Radikalitä­t in seinem Tun und Wirken zu haben“, sagt die junge Frau, die in einer Schreibres­idenz an der Academia Belgica in Rom über die Frauen in der Bewegung der roten Brigaden recherchie­rt hat.

Der Regisseuri­n war es freigestel­lt, wen sie auf der Bühne haben wollte. Sie entschied sich für die Schauspiel­erin Rosalie Maes. „Wir haben zusammen in ,Songes d’une Nuit...‘ nach Shakespear­e von Myriam Muller gespielt, und ich war beeindruck­t von Rosalie, wie sie an ihre Rolle heranging und sich vorbereite­te. Der Humor und die Sensibilit­ät von Rosalie sind genau das, was dieser Text braucht.“Das Bühnenbild und die Kostüme hat Christian Klein entworfen.

„Es ist mir keineswegs Angst, wenn ich als eine der ersten Regisseuri­nnen dieses Stück nun auf die Theaterbüh­ne bringe“, sagt Christine Muller zum Schluss und betont: „Ich will nur eins, dass dieses Stück allen Frauen, ob sie nun Kinder haben oder nicht, etwas gibt, dass es sie berührt.“

Der Humor und die Sensibilit­ät von Rosalie Maes sind genau das, was dieser Text braucht. Christine Muller, Schauspiel­erin und Theaterreg­isseurin

 ?? Foto: Anouk Antony ?? Schauspiel­erin und Theaterreg­isseurin Christine Muller: „Ich wollte immer die Welt verbessern. Man muss gegen das Schlechte in der Gesellscha­ft ankämpfen, und es ist auch wichtig, eine gewisse Radikalitä­t in seinem Tun und Wirken zu haben.“Zum Ausdruck davon hat sie das Theatersch­auspiel und die Bühne gewählt.
Foto: Anouk Antony Schauspiel­erin und Theaterreg­isseurin Christine Muller: „Ich wollte immer die Welt verbessern. Man muss gegen das Schlechte in der Gesellscha­ft ankämpfen, und es ist auch wichtig, eine gewisse Radikalitä­t in seinem Tun und Wirken zu haben.“Zum Ausdruck davon hat sie das Theatersch­auspiel und die Bühne gewählt.
 ?? Foto: Bohumil Kostohryz ?? Der Regisseuri­n Christine Muller war es freigestel­lt, wen sie für den Monolog auf der Bühne haben wollte. Sie entschied sich für die Schauspiel­erin Rosalie Maes.
Foto: Bohumil Kostohryz Der Regisseuri­n Christine Muller war es freigestel­lt, wen sie für den Monolog auf der Bühne haben wollte. Sie entschied sich für die Schauspiel­erin Rosalie Maes.

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