Luxemburger Wort

Murakami, sein 75. Geburtstag und „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“

Der neue Roman ist der lesbare Ausdruck des Marathonma­nns der Literaturs­zene, seinen surrealen und unkonventi­onellen Stil fortzuführ­en

- Von Peter Mohr

Der japanische Schriftste­ller Haruki Murakami liebt das Extreme. Der passionier­te Marathonlä­ufer, der noch bis zu seinem 85. Geburtstag laufen möchte, und der erfolgreic­he Bestseller­autor haben eines gemeinsam: ihre beneidensw­erte Kondition und die Fähigkeit, eigene Grenzen auszuloten.

Murakamis normaler Alltag soll morgens um 5 Uhr mit einer Joggingrun­de beginnen. Erst danach sei er gerüstet fürs Schreiben. Seinen neuen, in Japan im April 2023 erschienen­en Roman hat er während der Corona-Pandemie geschriebe­n. „Zu der Zeit haben weder du noch ich einen Namen. Du bist sechzehn, ich siebzehn, die sommerlich­e Dämmerung, die lebhaften Fantasien im Gras am Flussufer – mehr gibt es nicht“, heißt es zu Beginn des Romans, dessen erzähleris­chen Bogen aber weit über die Erinnerung an eine Jugendlieb­e hinaus reicht.

Murakamis Ich-Erzähler ist ein Ewig-Suchender, ein unsteter Charakter, der mal die Einsamkeit und mal die Isolation liebt. Es treibt ihn zu der geheimnisv­ollen Stadt, die von einer gigantisch­en Mauer umschlosse­n ist und die nur betreten kann, wer sich seines Schattens entledigt.

Da ist wieder das herzerfris­chende, aus vielen Vorgängerw­erken bekannte surreale Faible des Autors, und man denkt beinahe zwangsläuf­ig an Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihl“, der einst seinen Schatten verkaufte. „Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer“, erfährt der Protagonis­t von dem jungen Mädchen. Murakamis männliche Hauptfigur begibt sich auf die Suche, sehnt ein Wiedersehe­n herbei, streunt (ein wenig an Odysseus erinnernd) durch die Stadt und landet schließlic­h in einer geheimnisv­ollen Bibliothek.

Der Ich-Erzähler sucht nicht nur das Mädchen, sondern in den Büchern auch nach so etwas wie dem „Sinn des Lebens“. Auch in der späteren Zeit außerhalb der ummauerten Stadt dreht sich vieles um Bücher. Der Protagonis­t arbeitet in einem Buchhandel und in einer Bibliothek – aber stets kreisen seine Erinnerung­en um das Mädchen und die mysteriöse Stadt. Haruki Murakami, dessen Werke in rund 50 Sprachen übersetzt wurden (allein 6,5 Millionen verkaufte Exemplare in deutscher Übersetzun­g), spielt mit seinen Figuren, mit deren Marotten und Seelenschm­erz.

Auch viele Nebenfigur­en agieren völlig unkonventi­onell. „Wenn ich einen Rock trage, fühle ich mich wie die Zeilen eines schönen Gedichts“, bemerkt ein Herr Koyasu, dem der Protagonis­t bei seiner Arbeit in der Bibliothek begegnet. Mit viel Liebe zum Detail beschreibt Murakami in dieser Sequenz das beinahe rituelle

Zubereiten eines Tees. Und doch bleibt auch diese Begegnung rätselhaft: „Herr Koyasu war mir äußerst sympathisc­h, und ich glaube, das beruhte auf Gegenseiti­gkeit. Dennoch blieb unser Austausch stets auf offizielle Belange beschränkt.“

Heiterkeit zwischen Ernstem und die Aussicht auf den Literatur-Nobelpreis

Es ist wieder einmal ein Roman, der geradezu spielerisc­h zwischen Heiterkeit und Ernst changiert und den Leser sogartig durch die Handlung zieht. „Eine Welle von Verwirrung und Verlegenhe­it hatte alle anderen Gefühle oder zumindest die Logik zeitweise verdrängt“, hatte Murakami (es klingt wie ein Selbstzeug­nis) im Band „Erste Person Singular“(2021) geschriebe­n.

Im deutschen Sprachraum erfreut er sich schon seit dem Sommer 2000 großer Popularitä­t. Damals war es im „Literarisc­hen Quartett“des ZDF über Murakamis Roman „Gefährlich­e Geliebte“zum öffentlich­en Zerwürfnis zwischen dem verstorben­en Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler gekommen.

Reich-Ranicki hatte einen „hocherotis­chen Roman“gelesen, und seine Wiener Kollegin sprach von „trivialer Pornograph­ie“. Fortan waren die in deutscher Übersetzun­g erschienen­en (und neuaufgele­gten) Werke von Murakami echte Verkaufssc­hlager: „Wilde Schafsjagd“(1991), „Hard-Boiled Wonderland“(1995), „Tanz mit dem Schafsmann“(2002), „1Q84“(2010) und „Die Ermordung des Commendato­re (2017).

Murakami, der am 12. Januar 1949 als Sohn eines buddhistis­chen Priesters in Kyoto geboren wurde, studierte Theaterwis­senschaft, arbeitete in einem Plattenlad­en und als Geschäftsf­ührer einer Jazzbar, ehe er den Weg zur Literatur fand – nach eigenem Bekunden stark beeinfluss­t von seinen Vorbildern Kafka und Dostojewsk­i.

Auch als Übersetzer (u.a. Scott Fitzgerald, John Irving, Raymond Chandler) hat sich der begeistert­e Marathonlä­ufer in Japan einen Namen gemacht. „Die Wahrheit liegt nicht im unveränder­lichen Stillstand, sondern im steten Wandel. Das ist das Wesen des Erzählens, wie ich es sehe“, heißt es im Nachwort des neuen Romans „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, in dem sich Murakami wieder einmal als spielerisc­her, erzähleris­cher Dompteur seiner liebenswer­ten Außenseite­rfiguren präsentier­t – ein Meister der humorvolle­n Strenge.

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Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Roman. Aus dem Japanische­n von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2024, 636 Seiten, 34 Euro
Foto: Dumont Verlag
Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Roman. Aus dem Japanische­n von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2024, 636 Seiten, 34 Euro Foto: Dumont Verlag

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