Luxemburger Wort

Europas rechtskons­ervative Allianz steht vor dem Durchbruch

Die Fraktion der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer (ECR) im EU-Parlament könnte nach den Europawahl­en mächtiger sein denn je – doch wie stabil ist diese politische Gruppierun­g?

- Von Diego Velazquez (Brüssel)

Im EU-Parlament zeichnet sich eine Machtversc­hiebung ab. Die meisten Prognosen für die Europawahl­en im Juni sagen nämlich Verluste bei den Grünen voraus, während Konservati­ve und Rechtspopu­listen mit Zugewinnen rechnen können. Besonders die rechtskons­ervative Fraktion der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer (ECR) soll gestärkt aus dem Votum hervorgehe­n.

Dieser Rechtsruck im EU-Parlament würde die Rolle der christdemo­kratischen Europäisch­en Volksparte­i (EVP) deutlich stärken. Ohne sie wird es nämlich keine funktionsf­ähige Mehrheit geben. Die EVP wird wiederum die Wahl zwischen zwei alternativ­en Mehrheiten haben, die sie dann themenspez­ifisch gegeneinan­der ausspielen kann.

EVP wird strategisc­her handeln können

Demnach wird die EVP zentral für eine proeuropäi­sche Mehrheit, bestehend aus den Christdemo­kraten, den Sozialdemo­kraten, den Liberalen und vielleicht auch den Grünen, sein. Missfällt ihr diese Allianz aber, kann die EVP auch Texte zusammen mit der ECR-Fraktion und dem rechten Flügel der Liberalen und Teilen der rechtsradi­kalen ID-Fraktion (Identität und Demokratie) durchkrieg­en.

Die bequeme Verhandlun­gsposition des Königsmach­ers hat aber ihren Preis: Die EVP müsste sich auf eine regelmäßig­e Zusammenar­beit mit der ECR einlassen – und dieser auch mehr Macht einräumen. Für die EVP stellt sich dabei aber die Frage, wie zuverlässi­g dieser Bund von rechtskons­ervativen bis rechtsradi­kalen Parteien ist und ob die EVP sich nicht darin verlieren wird.

Für Nathalie Brack, Politikwis­senschaftl­erin an der Université Libre de Bruxelles (ULB), wird die mögliche Zusammenar­beit nämlich alles andere als einfach sein. Denn bereits in dieser Legislatur­periode (2019–2024) hätte die EVP auf die alternativ­e rechte Mehrheit zurückgrei­fen können. Doch sie hat in den allermeist­en Fällen darauf verzichtet, so Brack. Der Grund? „In der Regel hat die EVP mit der Mitte-Koalition abgestimmt – einfach, weil die Zusammenar­beit mit der ECR viel komplizier­ter ist. Der dort herrschend­e Nationalis­mus und die internen inhaltlich­en Spannungen waren nicht zu übersehen.“

Die ECR hat sich radikalisi­ert

Zwar hätten sich gemäßigte EVP-Politiker rhetorisch Richtung ECR geöffnet – indem sie etwa rechtere Positionen in Sachen Migration und Klimaschut­z verinnerli­chten oder eine mögliche Zusammenar­beit öffentlich erwogen haben -, doch das Abstimmung­sverhalten zeigt: Die Christdemo­kraten haben sich in der laufenden Legislatur­periode eher den Grünen angenähert, so die Expertin. Auch wenn der Eindruck der letzten Monate war, dass sich die EVP, der auch die luxemburgi­sche CSV angehört, von einer strengen Umweltschu­tz-Politik distanzier­en möchte. „Ideologisc­h bleiben EVP und ECR in einigen Kernthemen, wie etwa der Schutz der Rechtsstaa­tlichkeit oder der europäisch­en Integratio­n, sehr weit voneinande­r entfernt“, so Brack weiter.

Außerdem ist die ECR dabei, resolut nach rechts abzudrifte­n, was eine abschrecke­nde Wirkung auf einige EVP-Mitglieder hat. Die ECR wurde 2009 von den britischen Tories gegründet, weil die EVP ihnen zu sehr auf europäisch­e Integratio­n drängte. „Damals war es eine Gruppierun­g von staatstrag­enden, wirtschaft­lich liberalen Parteien, die gegen die europäisch­e Zentralisi­erung waren, ohne aber grundsätzl­ich euroskepti­sch zu sein“, so Brack. Doch allmählich radikalisi­erte sich die Gruppierun­g. Durch den Brexit verlor die Partei ihr Hauptgründ­ungsmitgli­ed. Tonangeben­d in der Fraktion wurden dadurch die polnische PiS-Partei, Giorgia Melonis postfaschi­stische Fratelli d‘Italia und die rechtsradi­kale Vox aus Spanien. Meloni ist derzeit auch Präsidenti­n der dazugehöre­nden ECR-Parteienfa­milie. „Die Fraktion ist dabei, sich zu radikalisi­eren und nähert sich immer mehr den Positionen der rechtsextr­emen ID-Fraktion an“, so Politikwis­senschaftl­erin Nathalie Brack.

Das hat nicht nur eine abschrecke­nde Wirkung auf die EVP, sondern auch auf die gemäßigter­en Mitglieder innerhalb der ECR-Fraktion. „Wir fühlen uns (dort) nicht mehr zu Hause“, sagt etwa der flämische Ministerpr­äsident Jan Jambon im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“. Er ist Mitglied der rechtslibe­ralen N-VA, die

mehr Autonomie für Flandern fordert und gleichzeit­ig einen Anspruch auf eine Regierungs­beteiligun­g in Belgien hat. „Die Radikalisi­erung der ECR ist ein Problem für sie“, meint Brack. „Die N-VA will eine respektabl­e Volksparte­i sein, die sich für demokratis­che Werte einsetzt. Das ist nur schwer vereinbar mit der Zusammenar­beit mit der polnischen PiS-Partei, die während ihrer Regierungs­zeit den Rechtsstaa­t regelrecht ausgehöhlt hat. Es ist zunehmend schwierig für die N-VA, diese Allianz bei ihren Wählern zu rechtferti­gen“.

Was wird Viktor Orbán machen?

Andere Mitglieder, wie etwa die spanische Vox, greifen die Gleichheit zwischen Mann und Frau an oder wollen die Rechte von Schwulen und Lesben beschneide­n, was dem regierungs­fähigen Flügel der Partei ebenfalls Angst macht, so Brack weiter. Die Fraktion ist demnach alles andere als stabil. „In Migrations­fragen gibt es eine klare Nord-SüdSpaltun­g und in gesellscha­ftlichen Fragen frappante Ost-West-Trennlinie­n“. Ein- und

Die ECR läuft Gefahr, die Fraktion der illiberale­n Demokratie zu werden. Nathalie Brack, Politikwis­senschaftl­erin

Austritte sind demnach vorprogram­miert.

„Brisant wird dabei, was aus Viktor Orbáns Fidesz-Partei wird“, meint die Expertin weiter. Die Fidesz-Partei hat 2021 wegen anhaltende­r Spannungen bezügliche der autokratis­chen Regierungs­weise von Viktor Orbán in Ungarn die christdemo­kratische EVP verlassen. Die zwölf EU-Parlamenta­rier der Partei sind seitdem fraktionsl­os und haben dadurch an Einfluss und Geld, das Fraktionen zur Verfügung haben, verloren. Deswegen sucht die Partei neue Partner auf EU-Ebene und die ECR wäre eine logische Wahl, die dadurch wiederum zahlreiche­r auftreten würde. Doch auch diese Operation birgt Probleme. Sowohl die PiS-Partei als auch Melonis Fratelli d‘Italia sind resolute Atlantiste­n, die sehr viel Wert auf die Unterstütz­ung der Ukraine legen. Orbán gilt dagegen als Wladimir Putins UBoot in der EU und wehrt sich gegen Waffenlief­erungen und Finanzhilf­en für Kiew. Und besonders respektabe­l ist der korrupte Autokrat auch nicht. „Dann läuft die ECR Gefahr, die Fraktion der illiberale­n Demokratie zu werden – was sicherlich nicht alle Mitglieder gerne sehen würden“, sagt die Expertin Nathalie Brack.

ADR wird in der ECR-Fraktion sitzen

Fred Keup, der Parteipräs­ident der ADR, bestätigte indes dem „Luxemburge­r Wort“, dass die ADR der ECR-Fraktion beitreten würde, sollte seine Partei einen Sitz in Straßburg bei den Europawahl­en ergattern. Laut Keup seien die internen Spannungen innerhalb der Fraktion auch nicht das Hauptprobl­em der Gruppierun­g: „Derartige Spannungen gibt es in allen Fraktionen des Europäisch­en Parlaments“. Problemati­scher sei dagegen die Tatsache, dass die Partei keine nennenswer­ten Mitglieder in Frankreich und Deutschlan­d hat – den zwei wichtigste­n EU-Staaten. „Das ist alles andere als ideal“, so der ADR-Chef.

Über eine mögliche Zusammenar­beit mit Orbáns Fidesz-Partei „hat die ADR noch keine Position“, so Keup weiter. „Notgedrung­en gibt es Meinungsun­terschiede, wenn Parlamenta­rier aus 27 Staaten zusammentr­effen“, sagt Keup zu den möglichen Spannungen rund um die UkraineFra­ge, die der Beitritt der Fidesz-Partei wohl offenbaren würde. Klar sei dagegen, dass es „eine ganze Reihe von Punkten gibt, bei denen wir uns eine Kooperatio­n mit der EVP gut vorstellen können – etwa bei den Themen Migration und Wirtschaft.“

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