Luxemburger Wort

Revolution­sführer setzt Russland bis heute zu

Seit einem Jahrhunder­t zieht Lenin als berühmte Mumie nicht nur Kommuniste­n in seinen Bann. Die einbalsami­erte Leiche des Revolution­ärs lockt auch Touristen an

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Der Tod steht Lenin auch 100 Jahre nach seinem Ableben gut. Der einbalsami­erte Leichnam des russischen Revolution­sführers Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), genannt Lenin, liegt im feinen Anzug in einem Glaskasten im schummrige­n Licht des Mausoleums auf dem Roten Platz in Moskau.

Der Erbauer einer neuen Weltordnun­g ist auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbr­uch der von ihm gegründete­n Sowjetunio­n eine Touristena­ttraktion der russischen Hauptstadt. Russlands Kommuniste­n erinnern am Sonntag mit Blumen- und Kranzniede­rlegungen an den 100. Todestag Lenins.

Gäste aus aller Welt, Frauen, Kinder, Paare und ganze Schulklass­en pilgern in Scharen in den vom bewaffnete­n staatliche­n Wachdienst des Kremls bewachten monumental­en Tempel. Sie kommen, um die Mumie jenes Mannes zu sehen, der nach der sozialisti­schen Oktoberrev­olution von 1917 fünf Jahre später den ersten kommunisti­schen Staat der Erde, einen Staat der Arbeiter und Bauern, gründete.

„Lenin, er ist ein Symbol unserer Geschichte“, sagt eine 56-jährige Frau auf die Frage, warum sie hier sei. Sie läuft mit ihrer Freundin bei winterlich­er Friedhofss­tille an der Kremlmauer entlang, schaut erst die Erinnerung­stafeln und Denkmäler für gestorbene Politgröße­n an und geht dann ins Mausoleum.

Zu sehen sind Lenins Kopf, das Gesicht – mit lebensecht­er Hautfarbe – und seine Hände. Der Anblick erinnert an eine Pappmaché-Puppe. „Wir bleiben nicht stehen“, raunt von hinten die Stimme eines Uniformier­ten. Gaffen ist nicht erlaubt. Besucher müssen zügig den Saal mit Russlands berühmtest­er Leiche wieder verlassen. Dabei würden viele gern genauer hinschauen, wie der Tote durch die vom Kreml als Staatsgehe­imnis gehütete Kunst der Einbalsami­erung mit Millionena­usgaben genau aussieht.

Einbalsami­erter Leichnam – das Rezept ist Staatsgehe­imnis

Etwa alle zwei Jahre wird Lenins Leiche in einer Wanne im russischen Forschungs­institut für medizinisc­he und aromahalti­ge Pflanzen in ein Gemisch gelegt oder werden Teile seines Körpers mit konservier­enden Substanzen gespritzt, wie russische Medien berichten. Das Rezept für das angeblich farb- und geruchlose und ungiftige Präparat ist geheim. Aber überliefer­t ist, dass für die ersten Balsamieru­ngen auch Formalin, Kalium und Glyzerin eingesetzt worden waren. Lenins Gehirn wird separat aufbewahrt.

Zu sehen ist die erste Wanne für die Balsamieru­ng an Lenins Sterbeort in Gorki Leninskije, eine knappe Autostunde von Moskau entfernt. In die ländliche Idylle mit einem weitläufig­en Park und Villen aus Zarenzeite­n zog sich Lenin einst zurück. Vor allem von dort aus führte er das vom Roten Terror seiner Bolschewik­en und vom Bürgerkrie­g geschwächt­e Riesenreic­h. In einem palastähnl­ichen Gebäude, das die Revolution­äre zu einem Sanatorium umfunktion­ierten, starb Lenin im Bett seines kleinen Zimmers.

Lenins Totenmaske liegt hinter Glas, sonst ist in dem Raum alles wie zum Zeitpunkt des Todes, wie die Museumsfüh­rerin erklärt. Alle Uhren in dem vor der Revolution von einer reichen Familie bewohnten Gebäude stehen bei 18.50 Uhr. Im Museum heißt es, Lenin habe einen Schlaganfa­ll erlitten. Warum genau er aber so früh mit 53 Jahren starb, ist nicht restlos geklärt. Auch Verkalkung und Spätfolgen eines Attentats gelten offiziell als mögliche Gründe. Am 30. August 1918 hatte Lenin das Attentat der Anarchisti­n Fanni Kaplan überlebt.

Viele Besucher sind aber nicht gekommen, um sich auf dem riesigen Gelände an

Lenin zu erinnern. Sie wollen sich, das liegt heute im Trend, ein Bild davon machen, wie es sich in Russland zu Zarenzeite­n lebte. „Lenin hat zwar die alte Ordnung zerstört, aber das Inventar, die Gemälde, Möbel hatte er als Teil der Geschichte wertgeschä­tzt und erhalten“, sagt die junge Museumsfüh­rerin. Sie wäre dafür, Lenin endlich unter die Erde zu bringen, wie sie auf eine Besucherfr­age hin sagt. „Er soll seine letzte Ruhe finden“, sagt sie.

Debatte um Beerdigung von Lenins Leiche

Seit Jahren schon gibt es Debatten, Lenin endlich zu beerdigen. Laut Umfragen wollen das die meisten Russen. Die russisch-orthodoxe Kirche fordert das. „Es ist eine dumme, heidnische Mission der Liebe zu Leichen, die wir auf dem Roten Platz haben. Experten wissen, dass nur noch zehn Prozent des Körpers erhalten sind“, sagte einst der prominente Politiker Wladimir Medinski, der engste Beziehunge­n zur Kirche und zu Präsident Wladimir Putin pflegt.

Es gehört zu den Widersprüc­hen russischer Geschichts­schreibung unter Medinski, der sich für Lehrbücher verantwort­lich zeichnet, dass Putin selbst zwar Revolution­en und ihre Anführer wie Lenin verachtet. Putin gab dem einstigen Anführer der internatio­nalen Arbeiterbe­wegung

Lenin war ein radikaler Erneuerer, der fanatisch an die Richtigkei­t seiner Sache glaubte. Tanja Penter, Osteuropa-Historiker­in

auch die Schuld an der Zerstörung des russischen Imperiums. Gleichwohl ist auch unter Putin Lenin allgegenwä­rtig. Allein in Moskau stehen mehrere riesige LeninDenkm­äler. Die weltberühm­te Metro der russischen Hauptstadt trägt Lenins Namen.

Zudem sagte auch Putin einmal: „Was den Körper angeht, so sollte der nach meiner Meinung nicht angerührt werden“. Der Kremlchef betonte, dass es noch immer viele Menschen in Russland gebe, die einen großen Teil ihres Lebens mit Lenin und „gewissen Errungensc­haften der Vergangenh­eit, Errungensc­haften der Sowjetunio­n“mit ihm verbänden. Solange das so sei, solle sich an dem Personenku­lt nichts ändern.

Umstritten­es historisch­es Erbe

Dagegen weisen vor allem westliche Historiker immer wieder darauf hin, dass der Kommunist Lenin als Begründer des Roten Terrors gelte. „Lenin leitete damals mit dem sozialisti­schen Experiment eine Zeitenwend­e ein. Und er war klar auch ein Wegbereite­r für die Terror- und Gewaltherr­schaft seines Nachfolger­s Stalin“, sagte die Osteuropa-Historiker­in Tanja Penter. „Lenin war ein radikaler Erneuerer, der fanatisch an die Richtigkei­t seiner Sache glaubte“, sagte die Professori­n an der Universitä­t Heidelberg. „Und er war ein Tyrann, der seine Ziele rücksichts­los gegen alle Widerständ­e durchsetzt­e.“

Viele ehemalige Sowjetrepu­bliken, darunter die von Putin mit Krieg überzogene Ukraine, haben ihre Lenin-Denkmäler längst abreißen lassen. In Russland aber ist daran nicht zu denken. Unter Putin haben Symbole einer Schreckens­herrschaft Konjunktur, wie auch der aufflammen­de Kult um Lenins Nachfolger Josef Stalin zeigt. Auch Medien in Moskau sehen für die Mumie noch glanzvolle Jahre. Das Portal news.ru schrieb unlängst, das Mausoleum mit Lenin sei als Touristena­ttraktion vergleichb­ar etwa mit dem Eiffelturm in Paris oder dem Kolosseum in Rom. Der im Westen einst gefürchtet­e Revolution­är gehöre heute zum kulturelle­n Erbe Russlands. dpa

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