Schwarzer Lavendel
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Tief in seinem Inneren hatte er gehofft, dass Isabelle ihm ein Zeichen geben würde nach dem romantischen Abend in Le Lézard. Irgendein kleines Signal, damit er wusste, dass sie ihn erwartete. Dass er nachts zu ihr ins Zimmer kommen sollte. Aber da war nichts.
Sie hatte kein Wort gesagt, es gab keine Berührung, keine Geste, nichts. Aber der vergangene Abend war sowieso überschattet gewesen von Lilous enttäuschenden Erlebnissen mit Lucas. Und noch immer stand Isabelles unausgesprochener Vorwurf im Raum, er hätte sich nicht genug engagiert in der Sache. Was natürlich völliger Unsinn war. Lilou war ihm längst ans Herz gewachsen, auch wenn er sich das vielleicht nicht immer so anmerken ließ.
Leon war in aller Frühe aus einem verwirrenden Traum aufgewacht. Er war Sarah begegnet. Und obwohl er auch in seinem Traum genau wusste, dass seine Frau tot war, hatte er sich doch gefreut, mit ihr zusammen zu sein. Sie hatte ihm eine unbekannte Wohnung gezeigt, in die er mit ihr einziehen sollte. Und er war einverstanden gewesen. Es erschien ihm ganz natürlich, wieder mit Sarah zusammenzuleben. Aber dann lief er durch das fremde Haus und konnte Sarah nicht mehr finden. In diesem Moment war er aufgewacht.
Leon hatte heiß geduscht. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass man eine düstere Stimmung am Morgen am besten mit einer heißen Dusche vertrieb. Jetzt betrachtete er sich im Spiegel und fragte sich, ob er sich in den letzten Tagen irgendwie verändert hatte und ob nicht der kleine Leberfleck auf der Wange doch größer geworden war. Einem Freund von ihm hatten sie kürzlich ein zwei Euro großes Loch in die Haut auf der Stirn geschnitten, nur um einen winzigen Leberfleck zu entfernen, der karzinogen war.
Der Freund hatte sich zum Glück schnell erholt. Leon mochte keine Arztbesuche und versuchte, Vorsorgeuntersuchungen zu vermeiden. Auf der anderen Seite wurde er von seinem schlechten Gewissen geplagt, wenn er sie zu lange aufschob. Und jedes Mal, wenn er bei einer Untersuchung gewesen war und auf die Ergebnisse wartete, hatte er tagelang düsterste Fantasien, mit welchen Worten sein Arzt ihm die schreckliche Nachricht überbringen würde.
Leon lief den Fußweg hinab in den Ort. Vorbei an den alten Gartenmauern. An weißem Plumbago, an Jasmin und Ginstersträuchern und an Bougainvilleen, die schon anfingen, ihre Blüten zu verlieren. In der Boulangerie Lou kaufte er das übliche Baguette und zwei Croissants mit Aprikosenmarmelade. Als er zurück ins Haus kam, saß Isabelle allein in der Küche und hatte nur für zwei gedeckt.
„Guten Morgen“, sagte Leon. „Ist Lilou schon zur Schule?“
„Hmmm“, machte Isabelle, was Leon als ein Ja auffasste.
„Ich habe uns Croissants mitgebracht.“Leon legte die Tüte neben das Baguette auf den Tisch, was ihm einen skeptischen Blick von Isabelle eintrug.
„Solange Lilou uns nicht sieht, dürfen wir auch mal die Cholesterinwerte nach oben jagen.“
„Ich hab uns einen Kaffee gemacht“, sagte Isabelle.
„Gift für unsere Herzkranzgefäße, wunderbar“, sagte Leon und füllte seine Tasse.
„Tut mir leid wegen gestern Abend.“Isabelle sah Leon an.
„Ich war ungerecht. Aber wenn ich Lilou so verzweifelt sehe, dann …“, sie unterbrach sich.
„Sie kann froh sein, dass sie eine Mutter wie dich hat“, sagte er, und Isabelle lächelte.
„War wirklich lieb von dir, dass du gleich zu ihr bist.“
„Konntest du inzwischen mit ihr reden?“, fragte Leon.
Isabelle nickte. „Wenn man fünfzehn ist und einem so was passiert, dann geht immer gleich die Welt unter.“
„Wie kommt recht?“
„Sie hat gesagt: Sie hofft , dass Lucas bei der Regatta ertrinkt“, antwortete Isabelle mit einem Grinsen.
„Ich hab es dir immer gesagt, sie hat ein stabiles Selbstbewusstsein.“„Ich reg mich so auf über diesen, diesen notgeilen Wichser. Er trägt schließlich Verantwortung für die Mädchen.“
„Willst du die Sache weiterverfolgen?“
„Lilou hat gesagt, sie würde niemals eine Aussage machen.“
„Schlaues Mädchen. Schließlich hat sie Lucas ja unbedingt haben wollen.“
„Fang bloß nicht wieder so an“, sagte Isabelle, bremste sich aber im nächsten Augenblick. „Entschuldige, Leon. Ich weiß, es ist nicht leicht mit einer alleinerziehenden Mutter zusammen unter einem Dach zu wohnen.“
„Ich hab mir gedacht: Wenn schon mit einer alleinerziehenden Mutter, dann am liebsten mit sie damit zudir.“Leon lächelte sie an, und sie lächelte zurück.
67. Kapitel
Leon hatte die Karte, in der die Wasserleitungen verzeichnet waren, zusammengerollt und neben sich in den Fußraum des Peugeots gelegt. Er fuhr wie üblich über die schmale D41 nach Pierrefeu. Die Temperaturen hatten in den letzten Tagen deutlich nachgelassen, aber der Himmel war immer noch samtblau.
Die Luft fühlte sich kühler an und roch morgens nach feuchter Erde. Die Weinlese war in vollem Gange. Immer wieder blockierten minutenlang große Erntemaschinen die Straße. Aber Leon genoss die kleinen Zwangspausen und wartete geduldig. Er stellte den Motor ab, beobachtete die Pflücker und roch den Duft der aufgeplatzten überreifen Trauben.
„Da ist Ihnen ein echter Coup gelungen.“Notar Lavalette hatte die Karte auf dem Besprechungstisch in seiner Kanzlei ausgebreitet und betrachtete sie mit einer Lupe, als wäre darauf eine Goldader verzeichnet. „Das ist das Weingut von Dunelle, natürlich, und hier …“, er fuhr mit der Rückseite eines Bleistifts die gestrichelte Linie entlang, „die Wasserleitung zu Le Lézard. Alles genau verzeichnet. Sehr gut, Docteur Ritter.“
(Fortsetzung folgt)