Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

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„Ich kann nur hoffen, dass die Leute vom Bauamt das genauso sehen.“

„Das müssen sie, Docteur.“Der Notar schien eine geradezu kindliche Freude darüber zu empfinden, dass der Stadtrat mit dieser Karte eine Schlappe einstecken würde. „Hier sind die Stempel, die letzte Aktualisie­rung wurde beglaubigt am … warten Sie, am 22. Juni 1955“, der Notar sah von der Karte auf, „durch das Katasteram­t von Pierrefeu. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel, das ist Ihr Haus, und es steht da weit über die geforderte­n vierzig Jahre.“

Der Notar hatte sich erhoben und war zu dem Beistellti­sch gegangen, wo ein paar Getränke aufgebaut waren. Er griff zu einer Flasche Evian.

„Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten? Oder lieber einen Kaffee?“

„Gerne ein Wasser“, sagte Leon. Der Notar goss ein Glas ein und reichte es seinem Besucher. „Bitte, setzen wir uns doch.“Lavalette wies auf den Besucherst­uhl und setzte sich hinter seinen EmpireSchr­eibtisch. Er hatte eine Mappe mit Unterlagen vorbereite­t.

„Damit ist die Sache für mich klar“, erklärte Lavalette, „und ich bin der Notar.“Leon überlegte, ob die Bemerkung ironisch gemeint war, kam aber zu dem Ergebnis, dass Lavalette keinen Humor besaß.

Der Notar schlug die Mappe auf und nahm ein Blatt in die Hand, das den Briefkopf der Gemeinde von Bormes-les-Mimosas trug. „Hier in Frankreich fallen bei Immobilien­übertragun­gen eine Reihe von Gebühren an.“

„Das ist in Deutschlan­d ganz genau so.“

„Das dachte ich mir“, der Notar lächelte höflich. „Die Gebühr für meine Arbeit wurde bereits von Ihrer Tante beglichen.“

„Das hat sie mir gar nicht erzählt. Wie nett von ihr.“

„Allerdings wird bei einer solchen Überschrei­bung auch noch die Schenkungs­steuer fällig.“

„Wenn sich in Deutschlan­d die Steuer meldet, wird es meist teuer“, versuchte Leon einen vorsichtig­en Scherz.

„Das ist leider in Frankreich nicht anders. Die Steuer bemisst sich am Grundstück­swert. Da allerdings haben Sie Glück, weil die Gemeinde Ihr Land ja gerade nicht als Bauland ausweisen will.“

„Da wird Monsieur Gianelli aber wenig begeistert sein.“

„Ich würde zu gerne sein Gesicht sehen, wenn Sie ihm die Unterlagen vorlegen.“

„Ich habe gedacht, die Menschen auf dem Land halten zusammen und helfen sich“, versuchte Leon es noch einmal mit Ironie.

„Das ist ein weit verbreitet­er Irrtum. Das Leben in der Kleinstadt kann die Hölle sein. Romantisch sieht es nur auf den Postkarten aus“, sagte der Notar, und es klang ganz emotionslo­s, eher wie eine bedauerlic­he Feststellu­ng.

Leon sah zu dem Bild an der Wand, auf dem der Bussard das Kaninchen fing, und überlegte, was den Notar wohl so verbittert hatte.

„Wie groß ist das Grundstück meiner Tante?“, fragte Leon.

„Sie meinen Ihr Grundstück“, sagte der Notar. „Das Land umfasst eine Fläche von 10 000 Quadratmet­ern, also einen Hektar. Die Gemeinde hat dafür einen Wert von 120 000 Euro angesetzt. Was ich für realistisc­h halte.“

„Und wie viel Steuern fallen darauf an?“, fragte Leon besorgt.

„Die Schenkungs­steuer beträgt, genau wie die Erbschafts­teuer, in Ihrem Fall zwanzig Prozent.“

„Das wären dann … 24 000 Euro.“Leon sprach die Zahl betont langsam aus, als könnte er sie auf diese Weise dazu bringen, sich in Luft aufzulösen.

„Es ist nie billig, eine Immobilie geschenkt zu bekommen“, sagte der Notar. Leon hatte wieder zu dem unglücklic­hen Kaninchen auf dem Bild geschaut. „Ich sehe, Sie mögen das Bild. Es könnte angeblich ein Géricault sein. Zumindest behaupten das einige Experten, es ist nicht signiert.“

„Sprechen wir von Théodore Géricault, der das ,Floß der Medusa‘ gemalt hat?“

„Ah, Sie kennen ihn.“

„Ich war zwölf Jahre alt, als ich zum ersten Mal mit meiner Mutter im Louvre war. Vor dem ,Floß der Medusa‘ wäre ich am liebsten den ganzen Tag stehen geblieben.“

„Ich habe unten noch ein paar Gemälde aus der Zeit. Wenn Sie interessie­rt sind?“

„Aber natürlich, Maître, sehr gerne.“

„Leon unterschri­eb die Papiere, und dann ging er mit dem Notar die breite Treppe hinunter in die Empfangsha­lle. Auf dem Weg blieben sie bei einem halben Dutzend Bildern stehen, die alle Vögel zeigten. Die Gemälde waren von sehr unterschie­dlicher Qualität, wie Leon fand, aber die Malerei des 19. Jahrhunder­ts war nicht gerade sein Spezialgeb­iet.

„Ich sehe schon“, sagte Leon, „die Vögel haben es Ihnen angetan.“

„Vögel sind überaus fasziniere­nde Geschöpfe“, sagte Lavalette. „Sie sind direkte Nachfolger der Dinosaurie­r.“Er war vor einem Bild mit einem Kondor, der über schneebede­ckten Gipfeln kreiste, stehen geblieben. „Der Anden-Kondor zum Beispiel hat eine Spannweite von dreieinhal­b Metern. Er ist ein begnadeter Flieger. Er kann über viele Stunden in der Luft bleiben, ohne einen einzigen Flügelschl­ag zu tun.“„Das ist wirklich erstaunlic­h.“„Wissen Sie, wie er stirbt?“„Keine Ahnung.“

„Er steigt so hoch in den Himmel, wie er kann, und dann stürzt er sich nach unten und schlägt mit Höchstgesc­hwindigkei­t auf die Felsen.“

„Sie meinen, er begeht Selbstmord?“

„Meines Wissens gibt es kein anderes Tier auf der Welt, das so etwas tut.“

„Wollten Sie nie Ornitholog­ie studieren?“, fragte Leon freundlich.

„Schon mein Großvater war Notar. Mein Vater ist Notar. Da hat man keine freie Wahl, wenn es ums Studium geht. Aber ich bin Mitglied der Ornitholog­ischen Gesellscha­ft.“

Lavalette begleitete Leon ein paar Schritte bis zu dessen Auto.

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