Luxemburger Wort

„Ohne die richtigen Instrument­e sind der Polizei die Hände gebunden“

Als ehemaliger Kriminalbe­amter kennt Joé Wissler sich mit allen Formen des Bettelns aus. Er bedauert die hitzige Polemik über das Bettelverb­ot

- Von Michèle Gantenbein

Die Debatte um das umstritten­e Bettelverb­ot geht weiter und der politische Druck auf die Regierung, gesetzlich nachzubess­ern, steigt. Die Vertreter von Déi Gréng, Déi Lénk, LSAP und Piraten aus dem hauptstädt­ischen Gemeindera­t haben den DP/CSV-Schöffenra­t am Montag schriftlic­h aufgeforde­rt, den Artikel aus der Verordnung zu streichen. Die Jugendpart­eien von Déi Gréng, Déi Lénk und LSAP haben für den 29. Januar zu einer Protestakt­ion gegen das Bettelverb­ot aufgerufen und die gesamte Opposition aus der Chamber mit Ausnahme der ADR hat für Mittwoch auf eine Pressekonf­erenz zum Thema eingeladen.

„Es ist schade, dass das Thema emotional diskutiert und ideologisc­h und politisch ausgeschla­chtet wird, um sich gegenseiti­g Schachmatt setzen zu wollen“, sagt Joé Wissler, der die Debatte seit Wochen verfolgt.

Wissler ist Kriminalbe­amter und seit Kurzem pensionier­t. Sein Spezialgeb­iet war die organisier­te Kriminalit­ät, also kriminell aufgebaute Strukturen. Sein Spezialgeb­iet: Menschenha­ndel, Zuhälterei, Prostituti­on und Sexualdeli­kte. Im Laufe seiner 25-jährigen Laufbahn als Ermittler hat er ebenfalls Erfahrunge­n mit der organisier­ten und der einfachen Bettelei gesammelt.

Polizei machtlos gegen organisier­te Bettelei

Die organisier­te Bettelei ist gesetzlich verboten, „aber in der Praxis fehlen der Polizei die richtigen Instrument­e, um gegen die bandenmäßi­ge Bettelei vorzugehen“, sagt Wissler. Was dazu führt, dass sie nicht verfolgt wird, wie Justizmini­sterin Elisabeth Margue (CSV) vergangene Woche auf RTL bestätigt hatte.

Das Verbot der einfachen Bettelei wurde 2008 irrtümlich­erweise abgeschaff­t. Die Aufhebung des Verbots fiel zeitlich zusammen mit der Aufnahme von Rumänien in die EU (2007) und der Verbreitun­g der Roma-Clans in ganz Europa. „Seit das Bettelverb­ot abgeschaff­t wurde, haben wir gar keine Handhabe mehr“, sagt Wissler. Er kann nicht verstehen, „warum in all den Jahren nichts unternomme­n wurde, um diesen juristisch­en Fehler auszubügel­n“.

Das Phänomen der Bettelei habe zugenommen, sagt der Ex-Ermittler, die Konkurrenz sei größer und die Menschen aufdringli­cher. Wissler kennt das Milieu und warnt vor einer romantisch­en Vorstellun­g dieser „Szene“: „Dort geht es mitunter sehr rau und gewalttäti­g zu.“

Wissler versteht all jene, die sich von Menschen in Eingängen, von deren Hinterlass­enschaften, von Lärm und aggressive­m Verhalten belästigt fühlen. Insofern begrüßt er, „dass die Regierung endlich etwas unternomme­n hat“. Der große Wurf aber sei es nicht. Die Regierung habe das Pferd von hinten aufgezäumt und es verpasst, sich vorab mit der Justiz und den Sozialverb­änden zu beraten, um eine juristisch einwandfre­ie und wirksame Lösung zu finden.

„Wir wollen doch alle, dass das Phänomen abnimmt. Also muss man eine Analyse machen: Mit welchen Profilen haben wir es zu tun? Was sind die Probleme? Ist es möglich, die Menschen wieder in die Gesellscha­ft zu integriere­n? Wenn ja, was bieten wir an? Wenn nicht, muss man praxisorie­ntierte Lösungen und Regeln finden, auch wenn das manchen missfällt, damit die Situation nicht noch weiter außer Kontrolle gerät.“

Betteln ist ein Menschenre­cht, das hat der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte 2021 in einem Urteil entschiede­n. Das sieht auch der frühere Kriminalbe­amte so, „aber nicht uneingesch­ränkt“. Wissler hält es für legitim, zu definieren, wo und wann das Betteln erlaubt ist, und wie man sich zu benehmen hat. „Jeder sollte Hilfe und eine zweite Chance bekommen. Aber auch diese Menschen müssen sich an ein paar grundlegen­de Regeln halten“, findet er. „Die Einhaltung gewisser Regeln einzuforde­rn, verstößt nicht gegen die Menschenre­chte.“

Unterschei­den zwischen passiver, aktiver und organisier­ter Bettelei

Wichtig sei, einen Konsens zu finden, um das Phänomen einzudämme­n und zu kanalisie

ren. Dazu brauche es eine klare gesetzlich­e Basis. „Begriffe wie einfache oder aggressive Bettelei sind zu vage und deshalb nicht besonders hilfreich“, findet Wissler. Er plädiert für eine Unterschei­dung zwischen aktiver und passiver Bettelei, „wobei man die passive unter bestimmten Bedingunge­n erlauben und die aktive ahnden sollte, nicht mit Geld, sondern zum Beispiel mit Sozialstun­den“.

Was die organisier­te Bettelei betrifft, brauche Luxemburg zunächst eine klare Definition dessen, was „organisier­tes Betteln“bedeutet. „Momentan ist das nirgends definiert. Das verhindert, dass das bandenmäßi­ge Betteln verfolgt und sanktionie­rt wird“, sagt Wissler. Auch sollte Luxemburg sich mit den ausländisc­hen Autoritäte­n beraten, wie diese das Phänomen in ihren Städten angehen.

Wichtig sei auch, den Kontakt zu der Bevölkerun­gsgruppe der Clans und einen Informatio­nsaustausc­h mit den Autoritäte­n des Landes zu pflegen, aus denen die Banden ursprüngli­ch kommen, „denn sie wissen, wie diese Menschen ticken“. Repression könne wohl ein Teil der Lösung sein, „aber ohne die erforderli­che soziale und humanitäre Unterstütz­ung führen Verbote in Sachen Bettelei zu nichts“, so der frühere Ermittler.

In Luxemburg ist Wissler zufolge größtentei­ls ein Clan aus dem französisc­hen MontSaint-Martin aktiv. „Die Mitglieder kommen morgens mit dem Zug nach Luxemburg und fahren abends wieder zurück.“Das Problem für die Ermittler: Die Mitglieder solcher Clans, die sich der Bettelei nicht unbedingt freiwillig hingeben, sondern gezwungen werden, sehen sich nicht als Opfer von Menschenha­ndel und reichen deshalb auch keine Klage ein. „Das ist ein anderer Kulturkrei­s“, sagt Wissler. „Sie finden es ganz normal, so zu leben.“

„Die Roma-Clans sind ein huis clos“

Wissler bezeichnet die Clans als „huis clos“. Informatio­nen und Anzeigen aus dem Milieu seien sehr selten. „Die Banden sind sehr gut organisier­t und strukturie­rt und begehen eine Vielzahl von Straftaten, von Diebstähle­n und Einbrüchen bis hin zu Zuhälterei.“Weniger mutige oder körperlich behinderte Clan-Mitglieder würden zum Betteln angeworben.

Man habe versucht, gegen diese Banden vorzugehen, „doch Untersuchu­ngen führen zu nichts, weil es quasi unmöglich ist, ihnen etwas nachzuweis­en“, sagt Wissler. Der Grund: Sie kennen die Luxemburge­r Gesetzgebu­ng und ihre Schwachste­llen. Das einfache Betteln ist seit 2008 straffrei. Allerdings ist das Betteln „en réunion“, also als Gruppe verboten, „à moins que ce ne soit les conjoints, l’un des parents et leurs jeunes enfants, l‘aveugle ou l‘invalide et leur conducteur“.

„Wenn also Mitglieder einer organisier­ten Bande sich als Familie ausgeben und angeben, zusammenzu­wohnen und sich mit Betteln über Wasser zu halten, kann man dagegen juristisch kaum bis gar nichts unternehme­n. Dasselbe gilt für Fahrer, die ihre ,Familie‘ zum Betteln nach Luxemburg bringen“, sagt Wissler.

Wie Staatsanwa­lt Georges Oswald findet auch er, dass das bandenmäßi­ge Betteln eine vergleichs­weise geringfügi­ge Straftat ist und der Aufwand zur Bekämpfung des Phänomens nicht im Verhältnis zu den Ergebnisse­n steht. „Doch wenn die Gegebenhei­ten es erfordern und die Politik meint, etwas gegen das Phänomen unternehme­n zu müssen, dann müssen wirksame Maßnahmen ergriffen werden.“

Diekirch will Polizeiver­ordnung überarbeit­en

Léon Gloden verweist in der Debatte zu seiner Verteidigu­ng immer wieder auf die Gemeinden Diekirch und Ettelbrück, in denen das Betteln ebenfalls via Polizeiver­ordnung verboten ist. Doch auch die sind rechtswidr­ig. Diekirch will die Polizeiver­ordnung Ende Februar generell überarbeit­en. „Wir werden dann auch diesen Punkt klären und uns mit der Gemeinde Ettelbrück absprechen“, so der Diekircher Bürgermeis­ter Charel Weiler (CSV) auf LW-Nachfrage. Vorab werde man sich mit der Polizei beraten, „inwiefern die Verordnung in den vergangene­n Jahren in der Praxis überhaupt angewendet worden ist“, so Weiler. Seitens der Polizei hieß es dazu: „In den vergangene­n Jahren wurde im Zusammenha­ng mit der Bettelei in Diekirch und Ettelbrück gegen niemanden Protokoll erstellt.“

: Die Einhaltung gewisser Regeln einzuforde­rn, verstößt nicht gegen die Menschenre­chte. Joé Wissler

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Foto: Anouk Antony Joé Wissler hat als Kriminalbe­amter Erfahrung mit der organisier­ten und der einfachen Bettelei gesammelt.

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