„Ohne die richtigen Instrumente sind der Polizei die Hände gebunden“
Als ehemaliger Kriminalbeamter kennt Joé Wissler sich mit allen Formen des Bettelns aus. Er bedauert die hitzige Polemik über das Bettelverbot
Die Debatte um das umstrittene Bettelverbot geht weiter und der politische Druck auf die Regierung, gesetzlich nachzubessern, steigt. Die Vertreter von Déi Gréng, Déi Lénk, LSAP und Piraten aus dem hauptstädtischen Gemeinderat haben den DP/CSV-Schöffenrat am Montag schriftlich aufgefordert, den Artikel aus der Verordnung zu streichen. Die Jugendparteien von Déi Gréng, Déi Lénk und LSAP haben für den 29. Januar zu einer Protestaktion gegen das Bettelverbot aufgerufen und die gesamte Opposition aus der Chamber mit Ausnahme der ADR hat für Mittwoch auf eine Pressekonferenz zum Thema eingeladen.
„Es ist schade, dass das Thema emotional diskutiert und ideologisch und politisch ausgeschlachtet wird, um sich gegenseitig Schachmatt setzen zu wollen“, sagt Joé Wissler, der die Debatte seit Wochen verfolgt.
Wissler ist Kriminalbeamter und seit Kurzem pensioniert. Sein Spezialgebiet war die organisierte Kriminalität, also kriminell aufgebaute Strukturen. Sein Spezialgebiet: Menschenhandel, Zuhälterei, Prostitution und Sexualdelikte. Im Laufe seiner 25-jährigen Laufbahn als Ermittler hat er ebenfalls Erfahrungen mit der organisierten und der einfachen Bettelei gesammelt.
Polizei machtlos gegen organisierte Bettelei
Die organisierte Bettelei ist gesetzlich verboten, „aber in der Praxis fehlen der Polizei die richtigen Instrumente, um gegen die bandenmäßige Bettelei vorzugehen“, sagt Wissler. Was dazu führt, dass sie nicht verfolgt wird, wie Justizministerin Elisabeth Margue (CSV) vergangene Woche auf RTL bestätigt hatte.
Das Verbot der einfachen Bettelei wurde 2008 irrtümlicherweise abgeschafft. Die Aufhebung des Verbots fiel zeitlich zusammen mit der Aufnahme von Rumänien in die EU (2007) und der Verbreitung der Roma-Clans in ganz Europa. „Seit das Bettelverbot abgeschafft wurde, haben wir gar keine Handhabe mehr“, sagt Wissler. Er kann nicht verstehen, „warum in all den Jahren nichts unternommen wurde, um diesen juristischen Fehler auszubügeln“.
Das Phänomen der Bettelei habe zugenommen, sagt der Ex-Ermittler, die Konkurrenz sei größer und die Menschen aufdringlicher. Wissler kennt das Milieu und warnt vor einer romantischen Vorstellung dieser „Szene“: „Dort geht es mitunter sehr rau und gewalttätig zu.“
Wissler versteht all jene, die sich von Menschen in Eingängen, von deren Hinterlassenschaften, von Lärm und aggressivem Verhalten belästigt fühlen. Insofern begrüßt er, „dass die Regierung endlich etwas unternommen hat“. Der große Wurf aber sei es nicht. Die Regierung habe das Pferd von hinten aufgezäumt und es verpasst, sich vorab mit der Justiz und den Sozialverbänden zu beraten, um eine juristisch einwandfreie und wirksame Lösung zu finden.
„Wir wollen doch alle, dass das Phänomen abnimmt. Also muss man eine Analyse machen: Mit welchen Profilen haben wir es zu tun? Was sind die Probleme? Ist es möglich, die Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren? Wenn ja, was bieten wir an? Wenn nicht, muss man praxisorientierte Lösungen und Regeln finden, auch wenn das manchen missfällt, damit die Situation nicht noch weiter außer Kontrolle gerät.“
Betteln ist ein Menschenrecht, das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2021 in einem Urteil entschieden. Das sieht auch der frühere Kriminalbeamte so, „aber nicht uneingeschränkt“. Wissler hält es für legitim, zu definieren, wo und wann das Betteln erlaubt ist, und wie man sich zu benehmen hat. „Jeder sollte Hilfe und eine zweite Chance bekommen. Aber auch diese Menschen müssen sich an ein paar grundlegende Regeln halten“, findet er. „Die Einhaltung gewisser Regeln einzufordern, verstößt nicht gegen die Menschenrechte.“
Unterscheiden zwischen passiver, aktiver und organisierter Bettelei
Wichtig sei, einen Konsens zu finden, um das Phänomen einzudämmen und zu kanalisie
ren. Dazu brauche es eine klare gesetzliche Basis. „Begriffe wie einfache oder aggressive Bettelei sind zu vage und deshalb nicht besonders hilfreich“, findet Wissler. Er plädiert für eine Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Bettelei, „wobei man die passive unter bestimmten Bedingungen erlauben und die aktive ahnden sollte, nicht mit Geld, sondern zum Beispiel mit Sozialstunden“.
Was die organisierte Bettelei betrifft, brauche Luxemburg zunächst eine klare Definition dessen, was „organisiertes Betteln“bedeutet. „Momentan ist das nirgends definiert. Das verhindert, dass das bandenmäßige Betteln verfolgt und sanktioniert wird“, sagt Wissler. Auch sollte Luxemburg sich mit den ausländischen Autoritäten beraten, wie diese das Phänomen in ihren Städten angehen.
Wichtig sei auch, den Kontakt zu der Bevölkerungsgruppe der Clans und einen Informationsaustausch mit den Autoritäten des Landes zu pflegen, aus denen die Banden ursprünglich kommen, „denn sie wissen, wie diese Menschen ticken“. Repression könne wohl ein Teil der Lösung sein, „aber ohne die erforderliche soziale und humanitäre Unterstützung führen Verbote in Sachen Bettelei zu nichts“, so der frühere Ermittler.
In Luxemburg ist Wissler zufolge größtenteils ein Clan aus dem französischen MontSaint-Martin aktiv. „Die Mitglieder kommen morgens mit dem Zug nach Luxemburg und fahren abends wieder zurück.“Das Problem für die Ermittler: Die Mitglieder solcher Clans, die sich der Bettelei nicht unbedingt freiwillig hingeben, sondern gezwungen werden, sehen sich nicht als Opfer von Menschenhandel und reichen deshalb auch keine Klage ein. „Das ist ein anderer Kulturkreis“, sagt Wissler. „Sie finden es ganz normal, so zu leben.“
„Die Roma-Clans sind ein huis clos“
Wissler bezeichnet die Clans als „huis clos“. Informationen und Anzeigen aus dem Milieu seien sehr selten. „Die Banden sind sehr gut organisiert und strukturiert und begehen eine Vielzahl von Straftaten, von Diebstählen und Einbrüchen bis hin zu Zuhälterei.“Weniger mutige oder körperlich behinderte Clan-Mitglieder würden zum Betteln angeworben.
Man habe versucht, gegen diese Banden vorzugehen, „doch Untersuchungen führen zu nichts, weil es quasi unmöglich ist, ihnen etwas nachzuweisen“, sagt Wissler. Der Grund: Sie kennen die Luxemburger Gesetzgebung und ihre Schwachstellen. Das einfache Betteln ist seit 2008 straffrei. Allerdings ist das Betteln „en réunion“, also als Gruppe verboten, „à moins que ce ne soit les conjoints, l’un des parents et leurs jeunes enfants, l‘aveugle ou l‘invalide et leur conducteur“.
„Wenn also Mitglieder einer organisierten Bande sich als Familie ausgeben und angeben, zusammenzuwohnen und sich mit Betteln über Wasser zu halten, kann man dagegen juristisch kaum bis gar nichts unternehmen. Dasselbe gilt für Fahrer, die ihre ,Familie‘ zum Betteln nach Luxemburg bringen“, sagt Wissler.
Wie Staatsanwalt Georges Oswald findet auch er, dass das bandenmäßige Betteln eine vergleichsweise geringfügige Straftat ist und der Aufwand zur Bekämpfung des Phänomens nicht im Verhältnis zu den Ergebnissen steht. „Doch wenn die Gegebenheiten es erfordern und die Politik meint, etwas gegen das Phänomen unternehmen zu müssen, dann müssen wirksame Maßnahmen ergriffen werden.“
Diekirch will Polizeiverordnung überarbeiten
Léon Gloden verweist in der Debatte zu seiner Verteidigung immer wieder auf die Gemeinden Diekirch und Ettelbrück, in denen das Betteln ebenfalls via Polizeiverordnung verboten ist. Doch auch die sind rechtswidrig. Diekirch will die Polizeiverordnung Ende Februar generell überarbeiten. „Wir werden dann auch diesen Punkt klären und uns mit der Gemeinde Ettelbrück absprechen“, so der Diekircher Bürgermeister Charel Weiler (CSV) auf LW-Nachfrage. Vorab werde man sich mit der Polizei beraten, „inwiefern die Verordnung in den vergangenen Jahren in der Praxis überhaupt angewendet worden ist“, so Weiler. Seitens der Polizei hieß es dazu: „In den vergangenen Jahren wurde im Zusammenhang mit der Bettelei in Diekirch und Ettelbrück gegen niemanden Protokoll erstellt.“
: Die Einhaltung gewisser Regeln einzufordern, verstößt nicht gegen die Menschenrechte. Joé Wissler