Luxemburger Wort

Ein russischer Opposition­eller weckt plötzlich Hoffnungen

Boris Nadeschdin hat das nötige Stimmenquo­rum für seine Kandidatur fast erreicht. Dafür hat er es jetzt mit der russischen Wahlbürokr­atie zu tun

- Von Stefan Scholl

Es ist wärmer geworden in Moskau, Michail, der den sechs Grad Frost mit einer grauschwar­zen Meckifrisu­r trotzt, sagt, er stehe jetzt 25 Minuten in der Warteschla­nge. „Warum?“, er lacht. „Um meine Unterschri­ft für einen unabhängig­en Kandidaten abzugeben.“Aber die kleine, blasse Anna neben ihm unterbrich­t ihn. „Lassen Sie es mich sagen. Ich bin hier, weil meine Mutter in der Ukraine beerdigt liegt, in Ternopil. Sie ist gestorben, und ich kann nicht an ihr Grab.“Boris Nadeschdin sei der einzige Kandidat, der sage, er sei für Frieden mit der Ukraine, bestätigt ihr junger Hintermann unter seiner weiß gepunktete­n Bommelmütz­e.

Vor der blassgraue­n Jugendstil­fassade der Hausnummer 10 an der Moskauer Furman-Gasse warten etwa 90 Menschen auf dem mit schmutzige­m Schnee verklebten Bürgerstei­g. Moskauer, die ihre Unterschri­ft für den liberalen Opposition­spolitiker Boris Nadeschdin abgeben wollen. Solche Warteschla­ngen haben sich in den vergangene­n Tagen in Dutzenden russischer, aber auch ausländisc­her Großstädte gebildet. Nadeschdin, 60, ein Mann aus der dritten Reihe der russischen Politik, ist der einzige Gegenkandi­dat Wladimir Putins vor den Präsidents­chaftswahl­en Mitte März, der die Kampfhandl­ungen in der Ukraine einstellen will.

Aber als Kandidat der außerparla­mentarisch­en Partei „Bürgerinit­iative“benötigt er für die Teilnahme mindestens 100.000 Wählerunte­rschriften. Nadeschdin besaß nicht einmal die Zeit, in allen Regionalha­uptstädten Stäbe zu organisier­en, am 14. Januar hatte er gerade 9.000 Unterschri­ften zusammen. Aber in den vergangene­n Tagen wurden seine Büros regelrecht von Anhängern gestürmt. Von Jakutsk, wo die Menschen bei 49 Grad Frost Schlange standen, bis zur russischen Exilmetrop­ole Belgrad, wo wie in Moskau und Sankt Petersburg wegen des Andrangs Zweitbüros eröffnet werden mussten.

Kurzer Moment der Freiheit

Der gemütliche Nadeschdin, den viele weiter als Handpuppe des Kremls betrachten, ist plötzlich hipp. Exilopposi­tionelle rufen reihenweis­e dazu auf, für ihn zu unterschre­iben. Selbst sein Gegenkandi­dat Wladislaw Dawankow, Duma-Abgeordnet­er der kremltreue­n „Neuen Leute“, gab ihm seine Unterschri­ft. Weil er ja für politische Konkurrenz in Russland sei.

Russland tut zumindest so, als wäre es wieder eine Demokratie. Zumindest für ein paar Tage und zumindest vor Nadeschdin­s Stäben öffnen sich der Opposition längst vergessene Freizonen. Dort können sich Putin-Gegner versammeln und ihre Ansichten äußern, ohne dafür ein Strafverfa­hren zu riskieren. Und Zehntausen­de nutzen diese Möglichkei­t, live gefeiert von den Exilmedien. Obwohl sich fast alle vor deren Kameras das Wort „Krieg“verkneifen.

Aber jetzt ist kein Videoblogg­er in Sicht, jetzt sprechen die Leute von der Ukraine, vom Frieden. „Alle wollen, dass das aufhört, worüber niemand reden darf“, sagt die kleine Anja. Nadeschdin selbst bestätigt auf Telegram, der Boom habe wohl wenig mit ihm selbst zu tun. „Es gibt einfach eine gewaltige Nachfrage nach Frieden und Veränderun­g.“

Die Schlange ist länger geworden, jetzt warten schon etwa 120 Menschen in der Furman-Gasse. Eine friedliche Szene, auch in den Hofeingäng­en und den geparkten Pkw sind keine unauffälli­g dunkelblau­grau gekleidete Athleten zu sehen.

Bisher habe sich auch kein einziger Randaliere­r in die Schlange gedrängt, sagt drin

Der gemütliche Nadeschdin, den viele weiter als Handpuppe des Kremls betrachten, ist plötzlich hipp.

nen Maria Neweljewa, die Leiterin des Moskauer Stabes. Und alle Unterschre­iber müssten ihren Pass und ihre polizeilic­he Anmeldung vorlegen. „Leute, die mit gefälschte­n Pässen ungültige Unterschri­ften fabriziere­n wollen, sind noch nicht aufgetauch­t.“

Stimmenzah­l wird gekappt

Nadeschdin selbst schreibt schon am Vormittag auf Telegram, man habe die ersten 100.000 Unterschri­ften zusammen. Aber damit sei die Hürde keineswegs genommen. Laut Nadeschdin sind nur 63 Prozent der Unterschri­ftsformula­re „ideal“ausgefüllt. Die Zentrale Wahlkommis­sion aber erklärt traditione­ll einen großen Teil der Signaturen für Putin-Opponenten wegen echter oder vermeintli­cher Formfehler für ungültig. Deshalb, so Nadeschdin gestern, müsse man 150.000 Unterschri­ften holen.

Abgesehen davon verlangen die Wahlregeln 100.000 Unterschri­ften aus mindestens 40 verschiede­nen Regionen, wobei aus keiner mehr als 2.500 angerechne­t werden. Von den bis gestern Nachmittag etwa 16.400 Moskauer Unterschri­ften werden also 13.900 weggedecke­lt.

Auch die Unterschri­ften der Leute, die jetzt draußen stehen. Befürchten sie nicht, dass Nadeschdin­s Kandidatur wie die vieler Opposition­eller vor ihm an den tückischen Ritualen der Zentralen Wahlkommis­sion scheitert? „Es gibt diese Rituale… “, fängt Michail mit der Meckifrisu­r an und wird wieder von der kleinen Anna mit der toten Mutter in Ternopil unterbroch­en. „Niemand weiß es, aber wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie erfahren.“Die Entscheidu­ng der Zentralen Wahlkommis­sion wird Anfang Februar erwartet.

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Fotos: AFP Vor der Wahlkampfz­entrale von Boris Nadeschdin, dem Präsidents­chaftskand­idaten der Partei „Bürgerinit­iative“, standen die Menschen Schlange.
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Boris Nadeschdin steht kurz davor, das nötige Quorum von 100.000 Stimmen zu erreichen. Dies ist notwendig, um als Kandidat zu den Präsidents­chaftswahl­en antreten zu können.
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