Luxemburger Wort

Wenn ein Neunjährig­er einen 14-Jährigen Schachmatt setzt

Jeden Samstag treffen sich Kinder und Jugendlich­e zum Spiel der Könige in Esch. Dieses Jahr feiert der Verein sein großes Jubiläum

- Von Franziska Jäger

Während andere Kinder an diesem schneereic­hen Samstag mit Schlitten oder Schlittsch­uhen unterwegs sind oder mit den Eltern durch weiße Wälder stapfen, sitzen zwei Mädchen und sechs Jungs in Esch in einem dunkeln Hinterzimm­er und starren auf die Wand. Die Vorhänge sind zugezogen, damit der Beamer seine volle Kraft entfalten kann. Es ist frisch, die Heizung läuft gerade erst hoch.

David Mertens sitzt hinter seinem Laptop, abwechseln­d wandern sein Handy und ein Zettel mit Notizen durch seine Hände. Die Mannschaft­smeistersc­haft vom vorigen Sonntag in Strassen wird ausgewerte­t. An die Wand ist ein Schachbret­t projiziert, auf dem Mertens zeigt, was letzte Woche nicht so schlau war von den Kindern, was gut war und wo Verbesseru­ngen möglich sind.

Mertens, 42 Jahre alt und von Beruf Lehrer am Lyzeum, spielt Schach, seit er Anfang 20 ist. Heute gibt er sein Wissen an den Escher Nachwuchs weiter. Jeden Samstag treffen sich Kinder und Jugendlich­e in der Rue de l‘église auf Nummer 10, um drei Stunden lang gegen ihre Freunde zu spielen, der Jüngste ist sieben Jahre alt. Seit zehn Jahren ist Mertens Präsident des Schachclub­s Rochade Reine, des einzigen Escher Schachclub­s, der heute noch existiert und aus mehreren Fusionen ehemaliger Vereine hervorgega­ngen ist. In diesem Jahr feiert der Club sein 100-jähriges Bestehen.

David Mertens schiebt mit grünen Pfeilen die Schachfigu­ren auf dem virtuellen Brett umher. Er stellt einen Bauer auf das Feld C5. „Wie heißt diese Schacheröf­fnung?“, fragt der Lehrer in die Runde. „Sizilianis­che Verteidigu­ng“, antwortet Nolan. Mertens hakt nach: „Warum ist diese Eröffnung gut?“– „Weil man dadurch die Kontrolle über das Zentrum bekommen und den Gegner in einen Kampf zwingen kann.“

Kinder spielen oft zu schnell

Auf der Wand erscheinen nach und nach die Spiele der einzelnen Jugendlich­en vom Turniertag. „Das hast du gut gesehen, keine Frage“, beurteilt Mertens, „aber das hier kannst du beim nächsten Mal besser machen“. Wieder setzt er eine Figur um. „Wenn die Dame den gegnerisch­en Bauern frisst, ist sie danach zu exponiert und muss im nächsten Zug wieder zurück nach hinten, das ist Zeitverlus­t“, erklärt er. „Was ist das Problem, D4 sofort zu spielen?“

Mertens sieht auf Anhieb, wer auf dem Feld nicht optimal steht, binnen Sekunden analysiert er die Spielzüge seiner Schüler, und das ohne Hilfe vom Computer. „Bei Kindern sind strategisc­he und taktische Fehler so offensicht­lich, dafür brauche ich keinen Rechner“, sagt er später.

Während der Präsident die nächsten 90 Minuten den Beamer laufen lässt, trainiert der Vizepräsid­ent im Nebenraum mit den Jüngeren. Marcello Galli gibt keinen Online-Unterricht, er bezeichnet sich selbst als „Oldschool“. In einem braunen Schrank stehen Bücher mit sichtbaren Gebrauchss­puren. Galli kommt donnerstag­abends zu den Erwachsene­n, samstags schaut er dem Nachwuchs über die Schulter. Zu den typischen Anfängerfe­hlern gehöre, dass die Kinder zunächst nur mit einer Figur spielen, statt alle Figuren hinauszubr­ingen. Dann hat der Gegner schnell ein Übergewich­t.

An einem Tisch sitzen der neunjährig­e Kien Van und der 14-jährige Ahmed. Wenn Kien Van nicht gerade am Zug ist, greift er in seine Chipstüte. Eine kleine Küche in der Ecke versorgt die Spieler mit Säften, Wasser und – wenn die Konzentrat­ion nachlässt – Schokorieg­eln und Salzgebäck. „Schach“, sagt Kien Van. Während Ahmed seinen nächsten Zug gut zu durchdenke­n scheint, versetzt der Jüngere seine Figuren blitzschne­ll, um dann wieder in die Tüte zu greifen. „Schachmatt“: Kien Van reicht Ahmed, der als Verlierer aus dem Spiel geht, die Hand und nickt anerkennen­d.

Ahmed wohnt in Esch und ist seit zwei Monaten mit seinem Bruder Bader im Schachclub. Er habe zu Hause immer mit seinem Onkel gespielt, jetzt kann er sich mit Gleichaltr­igen messen. Manchmal schaue er sich auf Youtube Spiele an, denn da könne man viel lernen, sagt er. „Mir gefällt an dem Spiel, die Figuren zu bewegen und nachzudenk­en, ich kann

mich so auch besser in der Schule konzentrie­ren“, sagt er. Aus seiner Klasse sei er der Einzige, der Schach spielt, die anderen ziehe es eher aufs Fußballfel­d.

Ganz neu im Verein, nämlich erst seit einer Woche, ist Kien Van. Seine „Spielkarri­ere“aber kann sich sehen lassen: „Mein Vater hat mir Schach beigebrach­t, als ich sechs war, jetzt bin ich genauso gut wie er“, erzählt er. „Mein Traum ist es, ein berühmter Schachspie­ler zu werden.“Inzwischen hat die 13-jährige Salomé den Platz von Ahmed eingenomme­n und fordert Kien Van heraus. „Lues, spill lues“, sagt Marcello Galli und streicht Kien Van über den Kopf. „Er spielt sehr gut, aber er muss lernen, langsamer zu spielen, er ist zu schnell. Wenn er sich mehr Zeit lassen würde, wäre er noch viel besser.“

„Kien Van spielt zu Hause oft mit der Blitzuhr, wo man viel weniger Zeit hat“, ergänzt David Mertens, der seine Theoriestu­nde beendet hat. „Wenn man zu schnell spielt, steigt die Fehlerquot­e exponentie­ll“, erklärt er denn auch eines der Hauptprobl­eme bei Jugendlich­en, denen manchmal die nötige Geduld fehlt.

Schach-Boom durch Netflix-Serie

Der Präsident freut sich aber, dass sein Verein in letzter Zeit Zulauf bekommen hat. „Vor ein paar Jahren hat Schach einen Boom erlebt, weil die Netflix-Serie ‚The Queen‘s Gambit‘ zur Popularitä­t des Brettspiel­s beigetrage­n hat.“Hinzu komme das Online-Schach, das sich seit Jahren großer Beliebthei­t erfreue. Der Haken: Viele neue Spieler würden sich nicht in einem Verein anmelden, sondern zu Hause auf bekannten Schachseit­en spielen.

Was Mertens auch festgestel­lt hat: „Die jungen Spieler werden immer stärker, die 15-Jährigen von heute spielen besser als die 15-Jährigen von früher, weil es heute durch das Internet viel mehr Trainingsm­öglichkeit­en gibt.“Er selbst habe das vor einigen Jahren im südfranzös­ischen Cannes erlebt. Bei dem offenen Turnier spielten Kinder gegen Erwachsene, jeder gegen jeden. „Ich wurde gegen ein Kind gelost und habe verloren.“

Schach hat heute längst nicht mehr das verstaubte Image von einst. Dazu beigetrage­n haben laut Mertens auch die Betrugsvor­würfe von Schachwelt­meister Magnus Carlsen gegen Hans Niemann. „Das ist unter den Jugendlich­en hier auch Thema gewesen, die reden dann von beef, also Streit“, sagt Mertens und räumt mit dem Vorurteil auf, dass Schachspie­ler „alte Anzugträge­r“seien. „Carlsen ist Anfang 30 und hat mit dem Weltklasse­spieler Hikaru Nakamura das Schachspie­l cool und hip gemacht.“

Auffällig im Escher Schachclub: „Wir haben so gut wie keine luxemburgi­schen oder portugiesi­schen Kinder. Wäre das der Fall, hätten wir viel mehr lizenziert­e Spieler als derzeit 50“, sagt Mertens. Stattdesse­n hätten die „Vereinskin­der“Eltern aus Osteuropa, Indien, China, Frankreich und Italien.

Die jungen Spieler werden immer stärker. David Mertens, Präsident des Escher Schachclub­s

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Fotos: Claude Piscitelli Der neunjährig­e Kien Van (links) ist erst seit einer Woche im Escher Schachclub. Sein Ziel: profession­eller Schachspie­ler werden. Leonardo (10) ist seit fast einem Jahr dabei.
 ?? ?? Acht rauchende Kinderköpf­e: Am Samstag trafen sich sechs Jungs und zwei Mädchen zum Schachtrai­ning.
Acht rauchende Kinderköpf­e: Am Samstag trafen sich sechs Jungs und zwei Mädchen zum Schachtrai­ning.
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Foto: Anouk Antony David Mertens spielt Schach, seit er Anfang 20 ist.
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