Schwarzer Lavendel
96
Die Weinfelder des Notars waren bereits abgeerntet. Doch die alten Produktionsgebäude des Weinguts, gleich hinter dem Haus, wirkten zwar gepflegt, aber verlassen.
„Sie keltern Ihren Wein nicht selber?“, fragte Leon erstaunt.
Normalerweise legten gerade kleinere Weingüter großen Wert auf ein eigenes Label.
„Nein, nicht mehr. Ich interessiere mich nicht für den Weinanbau. Mein Vater hat sich immer darum gekümmert. Seit er nicht mehr dazu in der Lage ist, habe ich alles verpachtet.“
„Was geschieht jetzt mit dem Wein?“
„Ernte, Pressung, macht alles die Coopérative von Pierrefeu. Das ist sehr viel Arbeit.“
„Ich weiß. Ich habe Monsieur Dunelle nur einen Nachmittag bei der Ernte geholfen. Mon Dieu!“Leon öffnete die Tür seines Autos. „Seitdem weiß ich, dass mein Platz in der Rechtsmedizin ist und nicht im Weinberg.“
„Sind Sie in Ihrem Fall weitergekommen? Ich höre, man hat Doktor Ravier wieder freigelassen?“Leon hatte nur darauf gewartet, dass Lavalette sich nach dem Fall erkundigte.
„Das waren juristische Entscheidungen. Ich werde nur dann gefragt, wenn es Opfer gegeben hat“, sagte Leon.
„Nach unserem Gespräch vor der Kirche habe ich öfter an Sie denken müssen“, bemerkte Lavalette.
Leon spürte, dass da noch etwas war, das der Notar ihm erzählen wollte. „Geht es um Dr. Ravier?“, fragte er.
„Ich kenne Bernard Ravier aus Kindertagen“, erzählte der Notar. „Sein Vater hatte die Praxis in Pierrefeu, und wir, wir wohnten schon immer hier in diesem Haus.“
„Sie waren also mit Bernard Ravier befreundet?“
„Nein, Bernard ist fast fünf Jahre jünger als ich. In diesem Alter ist das eine Ewigkeit. Aber wir waren im selben Reitverein, ganz in der Nähe des Sportflughafens“, erklärte der Notar. „Eines Tages fand man im Pferdestall die Katze des Besitzers. Jemand hatte sie aufgehängt und ihr den Bauch aufgeschlitzt. Und eine Woche später wurde eine weitere Katze gefunden. Sie hing an einem Baum. Sie war ebenfalls aufgeschlitzt worden.“
„Und was hatte das mit Ravier zu tun?“
„Er geriet unter Verdacht. Man fand sein blutbeschmiertes Messer hinter der Scheune. Aber er war ja erst vierzehn Jahre alt. Die Sache wurde nie aufgeklärt.“
„Hat damals die Polizei ermittelt?“, fragte Leon.
„Nein, nicht wirklich, aber hier in der Gegend war es das Tagesgespräch.“ „Und der Junge?“
„Die Eltern haben Bernard auf ein Internat bei Grenoble geschickt, und irgendwann war die Sache vergessen. Ich dachte, das könnte vielleicht interessant für Sie sein.“
„Wie gesagt, ich bin nicht bei der Polizei“, sagte Leon, „und über laufende Untersuchungen darf ich nicht sprechen.“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte der Notar. „Es war mir wichtig, Ihnen das zu erzählen. Manchmal hilf es ja, eine Person besser zu verstehen, wenn man ihre Geschichte kennt.“
„Da haben Sie recht“, sagte Leon freundlich.
„Sollte es noch irgendwelche Probleme mit den Urkunden geben, Sie können mich jederzeit anrufen.“
„Danke, sehr freundlich“, sagte Leon. „Bonne journée.“
„Als Leon auf dem Kiesweg zum Tor fuhr, konnte er den Notar im Rückspiegel sehen, der ihm kurz nachschaute, sich dann umdrehte und zum Haus zurückging. Leon schaltete das Radio ein. Auf Radio Nostalgie spielte man „C’est si bon“.
68. Kapitel
Die Lagebesprechung bei Polizeichef Zerna dauerte inzwischen schon über eine Stunde. Eine vergeudete Stunde, dachte Isabelle.
Aber Zerna hatte darauf bestanden, dass seine Stellvertreterin an seiner Seite saß, wenn Kommissarin Lapierre erschien, um sich über den Stand der Ermittlungen zu informieren.
Die verschiedenen Einsatzleiter waren angetreten, um Bericht zu erstatten. Aber es war genau so gekommen, wie Isabelle schon befürchtet hatte: Es gab nichts zu berichten. Zerna hatte zwar in einem TV-Interview behauptet, die Polizei hätte noch nicht alle Hinweise ausgewertet. Aber in Wirklichkeit lag das einfach nur daran, dass es keine konkreten Hinweise gab. Die Gendarmerie nationale hatte nichts, die Feuerwehr hatte nichts, und auch die Küstenwache hatte Strände und Klippen umsonst abgesucht. Und der Hubschrauber war eine halbe Stunde nur deshalb über den Hügeln von Pierrefeu gekreist, damit die Bürger beruhigt waren.
Zerna versuchte, bei Lapierre den Eindruck von Effizienz und Scharfsinn zu erwecken. Er hakte bei den Berichten nach und fragte nach Einzelheiten, um seine Kompetenz zu unterstreichen.
Aber auch dadurch konnte er nicht verbergen, dass alle Bemühungen im Sande verliefen. Und Kommissarin Lapierre durchschaute die ganze Veranstaltung als genau das, was sie war – eine Farce.
„Vielen Dank, Commandant Zerna“, sagte die Kommissarin nach siebzig Minuten unvermittelt. „Ich muss zurück nach Toulon.“Sie schob ihre Unterlagen zusammen, steckte sie in ihre Aktentasche und stand auf.
„Ich hoffe, wir konnten Sie auf den neuesten Stand bringen, Madame le Commissaire“, sagte Zerna anbiedernd und rang sich mühevoll ein Lächeln ab.
„Nun ja, danke, Commandant. Bei dieser dünnen Spurenlage werde ich Staatsanwalt Orlandy empfehlen, dass ab sofort Toulon die Leitung der Ermittlungen übernimmt.“Mit diesen Worten schritt Madame zur Tür. „Bonne journée“, sagte sie und verschwand.
Für einen langen Augenblick sagte Zerna gar nichts. Aber Isabelle erkannte an seiner pochenden Schläfenader, dass er innerlich kochte.