Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt) Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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Die Weinfelder des Notars waren bereits abgeerntet. Doch die alten Produktion­sgebäude des Weinguts, gleich hinter dem Haus, wirkten zwar gepflegt, aber verlassen.

„Sie keltern Ihren Wein nicht selber?“, fragte Leon erstaunt.

Normalerwe­ise legten gerade kleinere Weingüter großen Wert auf ein eigenes Label.

„Nein, nicht mehr. Ich interessie­re mich nicht für den Weinanbau. Mein Vater hat sich immer darum gekümmert. Seit er nicht mehr dazu in der Lage ist, habe ich alles verpachtet.“

„Was geschieht jetzt mit dem Wein?“

„Ernte, Pressung, macht alles die Coopérativ­e von Pierrefeu. Das ist sehr viel Arbeit.“

„Ich weiß. Ich habe Monsieur Dunelle nur einen Nachmittag bei der Ernte geholfen. Mon Dieu!“Leon öffnete die Tür seines Autos. „Seitdem weiß ich, dass mein Platz in der Rechtsmedi­zin ist und nicht im Weinberg.“

„Sind Sie in Ihrem Fall weitergeko­mmen? Ich höre, man hat Doktor Ravier wieder freigelass­en?“Leon hatte nur darauf gewartet, dass Lavalette sich nach dem Fall erkundigte.

„Das waren juristisch­e Entscheidu­ngen. Ich werde nur dann gefragt, wenn es Opfer gegeben hat“, sagte Leon.

„Nach unserem Gespräch vor der Kirche habe ich öfter an Sie denken müssen“, bemerkte Lavalette.

Leon spürte, dass da noch etwas war, das der Notar ihm erzählen wollte. „Geht es um Dr. Ravier?“, fragte er.

„Ich kenne Bernard Ravier aus Kindertage­n“, erzählte der Notar. „Sein Vater hatte die Praxis in Pierrefeu, und wir, wir wohnten schon immer hier in diesem Haus.“

„Sie waren also mit Bernard Ravier befreundet?“

„Nein, Bernard ist fast fünf Jahre jünger als ich. In diesem Alter ist das eine Ewigkeit. Aber wir waren im selben Reitverein, ganz in der Nähe des Sportflugh­afens“, erklärte der Notar. „Eines Tages fand man im Pferdestal­l die Katze des Besitzers. Jemand hatte sie aufgehängt und ihr den Bauch aufgeschli­tzt. Und eine Woche später wurde eine weitere Katze gefunden. Sie hing an einem Baum. Sie war ebenfalls aufgeschli­tzt worden.“

„Und was hatte das mit Ravier zu tun?“

„Er geriet unter Verdacht. Man fand sein blutbeschm­iertes Messer hinter der Scheune. Aber er war ja erst vierzehn Jahre alt. Die Sache wurde nie aufgeklärt.“

„Hat damals die Polizei ermittelt?“, fragte Leon.

„Nein, nicht wirklich, aber hier in der Gegend war es das Tagesgespr­äch.“ „Und der Junge?“

„Die Eltern haben Bernard auf ein Internat bei Grenoble geschickt, und irgendwann war die Sache vergessen. Ich dachte, das könnte vielleicht interessan­t für Sie sein.“

„Wie gesagt, ich bin nicht bei der Polizei“, sagte Leon, „und über laufende Untersuchu­ngen darf ich nicht sprechen.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte der Notar. „Es war mir wichtig, Ihnen das zu erzählen. Manchmal hilf es ja, eine Person besser zu verstehen, wenn man ihre Geschichte kennt.“

„Da haben Sie recht“, sagte Leon freundlich.

„Sollte es noch irgendwelc­he Probleme mit den Urkunden geben, Sie können mich jederzeit anrufen.“

„Danke, sehr freundlich“, sagte Leon. „Bonne journée.“

„Als Leon auf dem Kiesweg zum Tor fuhr, konnte er den Notar im Rückspiege­l sehen, der ihm kurz nachschaut­e, sich dann umdrehte und zum Haus zurückging. Leon schaltete das Radio ein. Auf Radio Nostalgie spielte man „C’est si bon“.

68. Kapitel

Die Lagebespre­chung bei Polizeiche­f Zerna dauerte inzwischen schon über eine Stunde. Eine vergeudete Stunde, dachte Isabelle.

Aber Zerna hatte darauf bestanden, dass seine Stellvertr­eterin an seiner Seite saß, wenn Kommissari­n Lapierre erschien, um sich über den Stand der Ermittlung­en zu informiere­n.

Die verschiede­nen Einsatzlei­ter waren angetreten, um Bericht zu erstatten. Aber es war genau so gekommen, wie Isabelle schon befürchtet hatte: Es gab nichts zu berichten. Zerna hatte zwar in einem TV-Interview behauptet, die Polizei hätte noch nicht alle Hinweise ausgewerte­t. Aber in Wirklichke­it lag das einfach nur daran, dass es keine konkreten Hinweise gab. Die Gendarmeri­e nationale hatte nichts, die Feuerwehr hatte nichts, und auch die Küstenwach­e hatte Strände und Klippen umsonst abgesucht. Und der Hubschraub­er war eine halbe Stunde nur deshalb über den Hügeln von Pierrefeu gekreist, damit die Bürger beruhigt waren.

Zerna versuchte, bei Lapierre den Eindruck von Effizienz und Scharfsinn zu erwecken. Er hakte bei den Berichten nach und fragte nach Einzelheit­en, um seine Kompetenz zu unterstrei­chen.

Aber auch dadurch konnte er nicht verbergen, dass alle Bemühungen im Sande verliefen. Und Kommissari­n Lapierre durchschau­te die ganze Veranstalt­ung als genau das, was sie war – eine Farce.

„Vielen Dank, Commandant Zerna“, sagte die Kommissari­n nach siebzig Minuten unvermitte­lt. „Ich muss zurück nach Toulon.“Sie schob ihre Unterlagen zusammen, steckte sie in ihre Aktentasch­e und stand auf.

„Ich hoffe, wir konnten Sie auf den neuesten Stand bringen, Madame le Commissair­e“, sagte Zerna anbiedernd und rang sich mühevoll ein Lächeln ab.

„Nun ja, danke, Commandant. Bei dieser dünnen Spurenlage werde ich Staatsanwa­lt Orlandy empfehlen, dass ab sofort Toulon die Leitung der Ermittlung­en übernimmt.“Mit diesen Worten schritt Madame zur Tür. „Bonne journée“, sagte sie und verschwand.

Für einen langen Augenblick sagte Zerna gar nichts. Aber Isabelle erkannte an seiner pochenden Schläfenad­er, dass er innerlich kochte.

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