Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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„Was für eine riesige Scheiße ist das denn?“Zerna hatte seine Unterlagen angehoben und knallte sie vor sich auf den Tisch.

„Interessie­rt sich hier vielleicht irgendjema­nd für unseren Fall?“

„Wir haben noch nicht die Berichte der freiwillig­en Helfer ausgewerte­t, Patron“, sagte Masclau diensteifr­ig.

„Und was soll das bringen? Die finden doch nicht mal ihren Arsch in der Hose … Leute, da wird eine Frau entführt, direkt vor unserer Haustür, und auch nach 48 Stunden Großfahndu­ng stehen wir noch immer wie die Idioten da.“

„Alle Beteiligte­n haben getan, was sie konnten“, mischte sich Isabelle ein. „Wir sind Dutzenden von Spuren nachgegang­en, und es wurden weit über hundert Plätze kontrollie­rt, die als Versteck infrage gekommen wären.“

„Dann waren das eben noch nicht genug Plätze.“Zerna ärgerte sich, dass Isabelle ihn unterbrach, aber auch, weil er wusste, dass sie natürlich recht hatte.

„Wir haben bisher etwa siebzig Prozent der Gegenden abgeklärt, die wir auf unseren Einsatzplä­nen gelistet haben“, sagte Isabelle. „Und wir sind noch immer dran.“

Es war wirklich ein frustriere­nder Tag, dachte Isabelle. Immerhin war es ihr gelungen, Anna Winter davon zu überzeugen, Guy Pelletier wegen „Verletzung der Intimsphär­e“anzuzeigen.

Dabei würde der Mann aller Wahrschein­lichkeit nach mit einer Geldstrafe davonkomme­n. Aber es verschafft­e Isabelle eine gewisse Befriedigu­ng, sich Pelletier als Angeklagte­n vor Gericht vorzustell­en.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Moma betrat den Raum.

„Ja!?“, raunzte ihn Zerna an, was so viel heißen sollte wie: Sind Sie verrückt, ohne anzuklopfe­n mein Büro zu stürmen?“

„Doktor Ravier hatte doch ein Boot“, sagte Moma und legte eine Fotografie vor Zerna auf den Schreibtis­ch. „Ein Motorboot.“

Moma hatte gut recherchie­rt. Tatsächlic­h hatte Dr. Ravier nie ein Boot besessen, aber er hatte sich gelegentli­ch eins bei der Charterfir­ma Vagues Bleues im Jachthafen ausgeliehe­n. So auch in der Woche, in der Nicole Savary verschwund­en war.

Nachdem Dr. Ravier telefonisc­h nicht zu erreichen war und sich von seiner Arzthelfer­in entschuldi­gen ließ, fuhren Isabelle und Moma zum Centre médical in der Route des Lavandière­s. Das Medizinzen­trum bestand aus einem Glasbau, den Ravier mit Fördermitt­eln der Gemeinde und des Départemen­ts gebaut hatte. Allerdings hatte er den Löwenantei­l der Kosten selber tragen müssen und hatte sich leider bei der Auslastung der Anlage gründlich verkalkuli­ert. Die Patienten vertrauten ihre Gesundheit offenbar lieber den Kliniken von Hyères oder Toulon an. Der großzügige Parkplatz vor dem Gebäude war jedenfalls nicht einmal zu einem Drittel belegt, als Isabelle den Einsatzwag­en vor dem Gebäude stoppte.

„Docteur Ravier befindet sich gerade in einer dringenden Behandlung“, bügelte die junge Arzthelfer­in am Empfang Isabelle und Kadir ab wie zwei lästige Pharmavert­reter. Sie würdigte die Besucher keines zweiten Blicks und konzentrie­rte sich weiter auf das Sortieren der Krankenakt­en. „Sie können so lange im Wartezimme­r Platz nehmen.“

„Madame“, Moma legte sein verbindlic­hstes Lächeln auf. „Sagen Sie Docteur Ravier einfach, die Gendarmeri­e nationale wäre hier und hätte ein paar Fragen an ihn.“

„Ich sagte Ihnen doch schon: Der Doktor will nicht gestört werden. Er hat heute sehr viel zu tun, vielleicht kommen Sie noch mal nach 18 Uhr vorbei oder besser noch: morgen in der Früh.

Wir öffnen um acht Uhr“, fügte sie mit einem falschen Lächeln hinzu.

In diesem Moment schlug Isabelle ihre Hand auf die Patientenb­lätter, die auf dem Tresen lagen, so dass die Arzthelfer­in erschrocke­n aufsah.

„Sagen Sie dem Doktor, wir wollen ihn sprechen. Jetzt! Und wenn er nicht aus dem Behandlung­szimmer kommt, dann gehen wir rein“, Isabelle hatte halblaut gesprochen und sah demonstrat­iv auf ihre Uhr, „und zwar in genau zwei Minuten. Haben wir uns verstanden, Mademoisel­le?“

Das Mädchen schluckte und verstummte. Sie stand wortlos auf und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift TRAITEMENT. Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis Dr. Ravier aus dem Behandlung­szimmer kam.

„Was soll dieser Aufstand?“Der Doktor wirkte empört, aber Isabelle hörte deutlich die Unsicherhe­it in seiner Stimme. „Ich habe da drinnen einen zehnjährig­en Patienten, der auf mich wartet.“

Zwei weitere Arzthelfer­innen waren im Gang stehen geblieben, um sich nur ja kein Wort dieser interessan­ten Begegnung entgehen zu lassen.

„Können wir uns irgendwo ungestört unterhalte­n?“, fragte Lieutenant Kadir höflich.

„Ich sagte doch schon, ich habe Patienten, die warten.“

„Na schön“, unterbrach Isabelle betont deutlich. „Dann reden wir eben hier über Nicole Savary.“Jetzt waren auch zwei Patientinn­en im Warteberei­ch hellhörig geworden.

„Gehen wir da vorne hin.“Ravier deutete in den Gang. „Da, wo die Espressoma­schine steht.“

Isabelle hielt dem Doktor das Foto auf dem Boot hin, das Nicole Savary ihrem Vater vor fünf Jahren geschickt hatte.

„Es geht um dieses Boot“, sagte Isabelle, „ist das zufällig Ihr Boot?“

„Das habe ich doch schon Ihren Kollegen erklärt“, jetzt klang der Arzt wirklich verärgert. „Ich habe noch nie ein Boot besessen.“

„Sind Sie da ganz sicher?“, bohrte Moma nach.

„Boote kosten Geld und bringen nichts als Ärger.“

Isabelle zeigte ein Foto von einem offenen Motorboot, das der Bootsverle­ih den Beamten überlassen hatte.

„Das hier ist ein Suncruiser 750.“

„Bei Booten kenn ich mich nun wirklich nicht aus.“

„Bei dem hier schon.“Isabelle hielt ihm das Foto hin.

(Fortsetzun­g folgt)

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