Schwarzer Lavendel
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„Was für eine riesige Scheiße ist das denn?“Zerna hatte seine Unterlagen angehoben und knallte sie vor sich auf den Tisch.
„Interessiert sich hier vielleicht irgendjemand für unseren Fall?“
„Wir haben noch nicht die Berichte der freiwilligen Helfer ausgewertet, Patron“, sagte Masclau diensteifrig.
„Und was soll das bringen? Die finden doch nicht mal ihren Arsch in der Hose … Leute, da wird eine Frau entführt, direkt vor unserer Haustür, und auch nach 48 Stunden Großfahndung stehen wir noch immer wie die Idioten da.“
„Alle Beteiligten haben getan, was sie konnten“, mischte sich Isabelle ein. „Wir sind Dutzenden von Spuren nachgegangen, und es wurden weit über hundert Plätze kontrolliert, die als Versteck infrage gekommen wären.“
„Dann waren das eben noch nicht genug Plätze.“Zerna ärgerte sich, dass Isabelle ihn unterbrach, aber auch, weil er wusste, dass sie natürlich recht hatte.
„Wir haben bisher etwa siebzig Prozent der Gegenden abgeklärt, die wir auf unseren Einsatzplänen gelistet haben“, sagte Isabelle. „Und wir sind noch immer dran.“
Es war wirklich ein frustrierender Tag, dachte Isabelle. Immerhin war es ihr gelungen, Anna Winter davon zu überzeugen, Guy Pelletier wegen „Verletzung der Intimsphäre“anzuzeigen.
Dabei würde der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Geldstrafe davonkommen. Aber es verschaffte Isabelle eine gewisse Befriedigung, sich Pelletier als Angeklagten vor Gericht vorzustellen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Moma betrat den Raum.
„Ja!?“, raunzte ihn Zerna an, was so viel heißen sollte wie: Sind Sie verrückt, ohne anzuklopfen mein Büro zu stürmen?“
„Doktor Ravier hatte doch ein Boot“, sagte Moma und legte eine Fotografie vor Zerna auf den Schreibtisch. „Ein Motorboot.“
Moma hatte gut recherchiert. Tatsächlich hatte Dr. Ravier nie ein Boot besessen, aber er hatte sich gelegentlich eins bei der Charterfirma Vagues Bleues im Jachthafen ausgeliehen. So auch in der Woche, in der Nicole Savary verschwunden war.
Nachdem Dr. Ravier telefonisch nicht zu erreichen war und sich von seiner Arzthelferin entschuldigen ließ, fuhren Isabelle und Moma zum Centre médical in der Route des Lavandières. Das Medizinzentrum bestand aus einem Glasbau, den Ravier mit Fördermitteln der Gemeinde und des Départements gebaut hatte. Allerdings hatte er den Löwenanteil der Kosten selber tragen müssen und hatte sich leider bei der Auslastung der Anlage gründlich verkalkuliert. Die Patienten vertrauten ihre Gesundheit offenbar lieber den Kliniken von Hyères oder Toulon an. Der großzügige Parkplatz vor dem Gebäude war jedenfalls nicht einmal zu einem Drittel belegt, als Isabelle den Einsatzwagen vor dem Gebäude stoppte.
„Docteur Ravier befindet sich gerade in einer dringenden Behandlung“, bügelte die junge Arzthelferin am Empfang Isabelle und Kadir ab wie zwei lästige Pharmavertreter. Sie würdigte die Besucher keines zweiten Blicks und konzentrierte sich weiter auf das Sortieren der Krankenakten. „Sie können so lange im Wartezimmer Platz nehmen.“
„Madame“, Moma legte sein verbindlichstes Lächeln auf. „Sagen Sie Docteur Ravier einfach, die Gendarmerie nationale wäre hier und hätte ein paar Fragen an ihn.“
„Ich sagte Ihnen doch schon: Der Doktor will nicht gestört werden. Er hat heute sehr viel zu tun, vielleicht kommen Sie noch mal nach 18 Uhr vorbei oder besser noch: morgen in der Früh.
Wir öffnen um acht Uhr“, fügte sie mit einem falschen Lächeln hinzu.
In diesem Moment schlug Isabelle ihre Hand auf die Patientenblätter, die auf dem Tresen lagen, so dass die Arzthelferin erschrocken aufsah.
„Sagen Sie dem Doktor, wir wollen ihn sprechen. Jetzt! Und wenn er nicht aus dem Behandlungszimmer kommt, dann gehen wir rein“, Isabelle hatte halblaut gesprochen und sah demonstrativ auf ihre Uhr, „und zwar in genau zwei Minuten. Haben wir uns verstanden, Mademoiselle?“
Das Mädchen schluckte und verstummte. Sie stand wortlos auf und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift TRAITEMENT. Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis Dr. Ravier aus dem Behandlungszimmer kam.
„Was soll dieser Aufstand?“Der Doktor wirkte empört, aber Isabelle hörte deutlich die Unsicherheit in seiner Stimme. „Ich habe da drinnen einen zehnjährigen Patienten, der auf mich wartet.“
Zwei weitere Arzthelferinnen waren im Gang stehen geblieben, um sich nur ja kein Wort dieser interessanten Begegnung entgehen zu lassen.
„Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“, fragte Lieutenant Kadir höflich.
„Ich sagte doch schon, ich habe Patienten, die warten.“
„Na schön“, unterbrach Isabelle betont deutlich. „Dann reden wir eben hier über Nicole Savary.“Jetzt waren auch zwei Patientinnen im Wartebereich hellhörig geworden.
„Gehen wir da vorne hin.“Ravier deutete in den Gang. „Da, wo die Espressomaschine steht.“
Isabelle hielt dem Doktor das Foto auf dem Boot hin, das Nicole Savary ihrem Vater vor fünf Jahren geschickt hatte.
„Es geht um dieses Boot“, sagte Isabelle, „ist das zufällig Ihr Boot?“
„Das habe ich doch schon Ihren Kollegen erklärt“, jetzt klang der Arzt wirklich verärgert. „Ich habe noch nie ein Boot besessen.“
„Sind Sie da ganz sicher?“, bohrte Moma nach.
„Boote kosten Geld und bringen nichts als Ärger.“
Isabelle zeigte ein Foto von einem offenen Motorboot, das der Bootsverleih den Beamten überlassen hatte.
„Das hier ist ein Suncruiser 750.“
„Bei Booten kenn ich mich nun wirklich nicht aus.“
„Bei dem hier schon.“Isabelle hielt ihm das Foto hin.
(Fortsetzung folgt)