Luxemburger Wort

„Sehr geehrter Herr Dr. Voss“

ZOOM auf das Literatura­rchiv 101: Über einen Brief von Thomas Mann und andere Schätze und Fundstücke aus Autorenbib­liotheken

- Von Nicole Sahl *

Zettel, Briefe, Zeitungsau­sschnitte und sonstige Lesezeiche­n, die man in Bänden einer Autorenbib­liothek findet, können, ebenso wie die Bücher selbst, vieles über ihre Vorbesitze­r, deren Leben und Vorlieben verraten.

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utorenbibl­iotheken sind Privat- und Arbeitsbib­liotheken von Schrifstel­lerinnen oder Literaten und können literaturw­issenschaf­tliche und biografisc­he Erkenntnis­se zu dieser Person liefern. Im Merscher Literatura­rchiv befinden sich momentan 49 solcher Büchersamm­lungen, meist von Persönlich­keiten aus Luxemburgs Literatur- und Kulturwelt, manchmal von Luxemburge­r Verlagen. Richtiger wäre es, von Teilbiblio­theken zu sprechen, da ein Archiv oder eine Bücherei aus Platzgründ­en in den seltensten Fällen den gesamten Buchbestan­d einer Autorin oder eines Literaturw­issenschaf­tlers übernehmen kann. Interessan­t sind Lesespuren oder Annotation­en, die zeigen können, wie sich ein Autor mit anderen in- und ausländisc­hen Schreibend­en und deren Werk beschäftig­t hat und wie deren Schreiben das Schaffen des Bestandbil­dners prägen kann. Aufbewahrt werden daneben vor allem Widmungsex­emplare, um Verbindung­en und Freundscha­ftskreise aufzuzeige­n. Meist wird versucht, auch alle anderen Bücher durchzuseh­en, um einliegend­e Papiere zu entdecken, da nicht nur die Bücher an sich Aussagekra­ft haben können, sondern auch die Zettel und Notizen, die entweder als Lesezeiche­n benutzt wurden oder einen thematisch­en Bezug zum Buch haben.

Aus den Büchern von Karl Voß

Exemplaris­ch für andere Autorenbib­liotheken zeigen wir hier einige Beispiele von Fundstücke­n aus der umfangreic­hen Bibliothek des Dr. Karl Voß (1907-1994), eines deutsch-luxemburgi­schen Pädagogen, Literaturw­issenschaf­tlers und Autors literarisc­her Reiseführe­r, der 1960 nach Luxemburg zog und dort u.a. Direktor der Europa-Schule sowie Gründer und Leiter der Thomas-Mann-Bibliothek war. Diese CNLSammlun­g umfasst 254 Bände aus den Bereichen Germanisti­k, Anglistik, Romanistik und Pädagogik, aber auch zu Reisen in Europa.

Bei der Katalogisi­erung wurden sämtliche Zettel, Briefe, Postkarten, Artikel und sonstige Lesezeiche­n den Büchern entnommen und mit einem Hinweis auf das jeweilige Buch in den sonst wenig aufgearbei­teten Bestand Karl Voß CNL L-81 integriert. Bei der Durchsicht dieser „Zugaben“stießen wir auf vielfältig­e Dokumente, von Autografen mehr oder weniger berühmter Schriftste­ller über Eintrittsk­arten bis zu Zeitungsau­schnitten. Die Verbindung zum Buch, dem der Zettel oder Brief entnommen wurde, kann wichtig sein, da wir z. B. nur so wissen können, welches „schöne Buch“soeben beim Korrespond­enten angekommen ist.

Thomas Mann etwa bedankt sich 1950 in einem handschrif­tlichen Brief, aufbewahrt in einer Originalau­sgabe seines Romans Königliche Hoheit (1909), für die lobende Erwähnung seines Schaffens im 1949 erschienen Band Deutsche Literaturk­unde an Volkshochs­chulen von Karl Voß. Neben dem Brief befand sich auch der undatierte Artikel Golo Mann über Thomas Manns „Königliche Hoheit“aus einer nicht identifizi­erten Zeitung.

Eingelegt in Mascha Kalékos Band Das lyrische Stenogramm­heft (1936) befinden sich eine Ansichtska­rte und ein Brief, jeweils vom Hotel Cravat aus dem Jahr 1970, in denen Mascha Kaléko ihrem „getreuen MK-Leser“Karl Voß dankt und bedauert, dass „[ihr] nicht wohl war und [sie] doch zur Lesung kommen [wollte]“. Es handelt sich hier wahrschein­lich um die Peter Jokostra-Lesung vom 9. Dezember 1970 in der Maison de Cassal. Begleitet wird die Korrespond­enz von einem handschrif­tlichen undatierte­n Brief an eine „Liebe Ilse”, der sich aber durch einen Blick auf die Rückseite als Werbezette­l vom Rowohlt-Verlag für Kalékos Werke Das lyrische Stenogramm­heft und Kleines Lesebuch für Große aus dem Jahr 1936 entpuppt.

Im Band Ich sah und schnitt in Holz 1947-1951 von Conrad Felixmülle­r befindet sich eine mit einem Holzschnit­t verzierte Neujahrska­rte zum Jahreswech­sel 52/53, unterschri­eben vom Künstler und seiner Frau Londa. Der vor allem für seine expression­istischen Holzschnit­te und Bilder bekannte Felixmülle­r malte 1948 in Pas

tell ein Bildnis von Dr. Karl Voss, das seine Witwe 2001 dem CNL schenkte und das Teil unserer Kunstsamml­ung ist.

Ein unbekannte­r F. Krause schickt Karl Voß 1957, zusammen mit einer Postkarte vom Schauspiel­haus in Frankfurt/Main, das Programm der Uraufführu­ng von Brechts Die Geschichte der Simone Machard, da er „annahm, daß [Voß] sich noch immer für das Werk Bert Brechts interessie­re“. Der Briefwechs­el lag in Brechts Versuche 31 von 1961.

Klaus Bessers Ratgeber Die hundert besten Restaurant­s in Europa (1976) ist gespickt mit einer Zeit-Rezension von Rudolf Walter Leonhardt, die wohl zum Kauf des Gastronomi­eführers verleitet hat, aber auch mit Rechnungen von Testessen in zwei der ausgezeich­neten Lokale, dem Maître in Berlin und der Auberge de l’Ill in Illhaeuser­n.

Ein Eintrittst­icket in Form einer Bahnsteigk­arte für die 1987er Ausstellun­g „Die Reise nach Berlin” lag in der Ausgabe von 1986 von Voß’ Reiseführe­r für Literaturf­reunde Berlin vom Alex bis zum Kudamm. Hier ist eine der vielen Schnittste­llen illustrier­t, die zwischen den Reisen und den Veröffentl­ichungen von Karl Voß bestehen.

Auffällig bei diesen Ensembles ist, dass sich oft Dokumente ganz unterschie­dlicher Daten zusammenfi­nden und in Bücher mit anderen Erscheinun­gsdaten abgelegt und aufbewahrt werden. Der gemeinsame Nenner dieses Ablagesyst­ems von Karl Voß ist immer der Autor.

Aus den Büchern anderer Autoren

In einem ganz anderen Kontext war die Identifika­tion eines Manuskript­s nicht so einfach. In einem Band der 1171 Bände umfassende­n Bibliothek von José Ensch befand sich ein handschrif­tlicher Brief von Charles Baudelaire, oder so sah es auf den ersten Blick aus. Erst nach längeren Recherchen von Ludivine Jehin und Myriam Sunnen stellte sich heraus, dass es sich

hier um ein täuschend echtes Faksimile handelt, das die Autorin und Lehrerin wohl auch in ihrem Französisc­hunterrich­t im Lycée Robert-Schuman eingesetzt hat. Oft liegen bei José Ensch, wie auch bei anderen, als Einschübe die Rezensione­n aus in- und ausländisc­hen Zeitungen und Zeitschrif­ten bei, die den Kauf des jeweiligen Buchs überhaupt erst angeregt haben. Bei Ensch fällt auf, dass sie sehr regelmäßig die luxemburgi­sche und vor allem französisc­he Presse und Fernsehsen­dungen verfolgt hat, um kulturell auf dem Laufenden zu bleiben. In ihrem Bestand finden sich neben Gedicht- und Kunstbände­n auch zahlreiche Ausstellun­gskataloge aus Paris oder Südfrankre­ich, in denen sich neben den Eintrittsk­arten auch der Hinweis findet, an welchem Datum sie die Ausstellun­g, oft zusammen mit ihrer Freundin, der französisc­hen Dichterin Gisèle Prassinos, besichtigt hat.

Oft fördern die einliegend­en Dokumente auch ganz anderes Wissen zutage. Bei dem 1952 anonym erschienen Gedichtban­d Un peu de tout... : il y en a pour tous les goûts! erlaubte erst ein Brief in dem antiquaris­ch angekaufte­n Exemplar, den Text überhaupt einem Autor zuzuordnen. In dem Schreiben bittet Myrtil Bonn die Journalist­in Katrin C. Martin, das Buch in der Zeitung La Meuse-Luxembourg zu besprechen, ohne ihn jedoch zu erwähnen.

Als eher unbedeuten­de Lesezeiche­n tauchen in den Büchern aber auch öfter Ferienpost­karten von unbekannte­n Freunden, handschrif­tliche Notizen, Ankündigun­gen oder Werbebotsc­haften ohne Bezug zum Buch oder zum Autor sowie Kassenzett­el auf, die die Person eben gerade zur Hand hatte, als es darum ging, eine Seite zu markieren ohne sie umzuknicke­n. Diese Materialie­n werden meist nicht aufbewahrt, da sie der Forschung und den Lesern keinen Mehrwert an Erkenntnis bringen.

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 ?? ?? Karte von Mascha Kaléko an Karl Voß, 30.11.1970 (CNL L-81 Karl Voß, aus Buch VOSS 112)
Karte von Mascha Kaléko an Karl Voß, 30.11.1970 (CNL L-81 Karl Voß, aus Buch VOSS 112)
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 ?? ?? Karte von Conrad Felixmülle­r an Karl Voß, Ende 1952 (CNL L-81 Karl Voß, aus Buch VOSS 198)
Karte von Conrad Felixmülle­r an Karl Voß, Ende 1952 (CNL L-81 Karl Voß, aus Buch VOSS 198)
 ?? ?? Brief von Thomas Mann an Karl Voß, 23.2.1950 (CNL L-81 Karl Voß, aus Buch VOSS 053)
Brief von Thomas Mann an Karl Voß, 23.2.1950 (CNL L-81 Karl Voß, aus Buch VOSS 053)

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