„Sehr geehrter Herr Dr. Voss“
ZOOM auf das Literaturarchiv 101: Über einen Brief von Thomas Mann und andere Schätze und Fundstücke aus Autorenbibliotheken
Zettel, Briefe, Zeitungsausschnitte und sonstige Lesezeichen, die man in Bänden einer Autorenbibliothek findet, können, ebenso wie die Bücher selbst, vieles über ihre Vorbesitzer, deren Leben und Vorlieben verraten.
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utorenbibliotheken sind Privat- und Arbeitsbibliotheken von Schrifstellerinnen oder Literaten und können literaturwissenschaftliche und biografische Erkenntnisse zu dieser Person liefern. Im Merscher Literaturarchiv befinden sich momentan 49 solcher Büchersammlungen, meist von Persönlichkeiten aus Luxemburgs Literatur- und Kulturwelt, manchmal von Luxemburger Verlagen. Richtiger wäre es, von Teilbibliotheken zu sprechen, da ein Archiv oder eine Bücherei aus Platzgründen in den seltensten Fällen den gesamten Buchbestand einer Autorin oder eines Literaturwissenschaftlers übernehmen kann. Interessant sind Lesespuren oder Annotationen, die zeigen können, wie sich ein Autor mit anderen in- und ausländischen Schreibenden und deren Werk beschäftigt hat und wie deren Schreiben das Schaffen des Bestandbildners prägen kann. Aufbewahrt werden daneben vor allem Widmungsexemplare, um Verbindungen und Freundschaftskreise aufzuzeigen. Meist wird versucht, auch alle anderen Bücher durchzusehen, um einliegende Papiere zu entdecken, da nicht nur die Bücher an sich Aussagekraft haben können, sondern auch die Zettel und Notizen, die entweder als Lesezeichen benutzt wurden oder einen thematischen Bezug zum Buch haben.
Aus den Büchern von Karl Voß
Exemplarisch für andere Autorenbibliotheken zeigen wir hier einige Beispiele von Fundstücken aus der umfangreichen Bibliothek des Dr. Karl Voß (1907-1994), eines deutsch-luxemburgischen Pädagogen, Literaturwissenschaftlers und Autors literarischer Reiseführer, der 1960 nach Luxemburg zog und dort u.a. Direktor der Europa-Schule sowie Gründer und Leiter der Thomas-Mann-Bibliothek war. Diese CNLSammlung umfasst 254 Bände aus den Bereichen Germanistik, Anglistik, Romanistik und Pädagogik, aber auch zu Reisen in Europa.
Bei der Katalogisierung wurden sämtliche Zettel, Briefe, Postkarten, Artikel und sonstige Lesezeichen den Büchern entnommen und mit einem Hinweis auf das jeweilige Buch in den sonst wenig aufgearbeiteten Bestand Karl Voß CNL L-81 integriert. Bei der Durchsicht dieser „Zugaben“stießen wir auf vielfältige Dokumente, von Autografen mehr oder weniger berühmter Schriftsteller über Eintrittskarten bis zu Zeitungsauschnitten. Die Verbindung zum Buch, dem der Zettel oder Brief entnommen wurde, kann wichtig sein, da wir z. B. nur so wissen können, welches „schöne Buch“soeben beim Korrespondenten angekommen ist.
Thomas Mann etwa bedankt sich 1950 in einem handschriftlichen Brief, aufbewahrt in einer Originalausgabe seines Romans Königliche Hoheit (1909), für die lobende Erwähnung seines Schaffens im 1949 erschienen Band Deutsche Literaturkunde an Volkshochschulen von Karl Voß. Neben dem Brief befand sich auch der undatierte Artikel Golo Mann über Thomas Manns „Königliche Hoheit“aus einer nicht identifizierten Zeitung.
Eingelegt in Mascha Kalékos Band Das lyrische Stenogrammheft (1936) befinden sich eine Ansichtskarte und ein Brief, jeweils vom Hotel Cravat aus dem Jahr 1970, in denen Mascha Kaléko ihrem „getreuen MK-Leser“Karl Voß dankt und bedauert, dass „[ihr] nicht wohl war und [sie] doch zur Lesung kommen [wollte]“. Es handelt sich hier wahrscheinlich um die Peter Jokostra-Lesung vom 9. Dezember 1970 in der Maison de Cassal. Begleitet wird die Korrespondenz von einem handschriftlichen undatierten Brief an eine „Liebe Ilse”, der sich aber durch einen Blick auf die Rückseite als Werbezettel vom Rowohlt-Verlag für Kalékos Werke Das lyrische Stenogrammheft und Kleines Lesebuch für Große aus dem Jahr 1936 entpuppt.
Im Band Ich sah und schnitt in Holz 1947-1951 von Conrad Felixmüller befindet sich eine mit einem Holzschnitt verzierte Neujahrskarte zum Jahreswechsel 52/53, unterschrieben vom Künstler und seiner Frau Londa. Der vor allem für seine expressionistischen Holzschnitte und Bilder bekannte Felixmüller malte 1948 in Pas
tell ein Bildnis von Dr. Karl Voss, das seine Witwe 2001 dem CNL schenkte und das Teil unserer Kunstsammlung ist.
Ein unbekannter F. Krause schickt Karl Voß 1957, zusammen mit einer Postkarte vom Schauspielhaus in Frankfurt/Main, das Programm der Uraufführung von Brechts Die Geschichte der Simone Machard, da er „annahm, daß [Voß] sich noch immer für das Werk Bert Brechts interessiere“. Der Briefwechsel lag in Brechts Versuche 31 von 1961.
Klaus Bessers Ratgeber Die hundert besten Restaurants in Europa (1976) ist gespickt mit einer Zeit-Rezension von Rudolf Walter Leonhardt, die wohl zum Kauf des Gastronomieführers verleitet hat, aber auch mit Rechnungen von Testessen in zwei der ausgezeichneten Lokale, dem Maître in Berlin und der Auberge de l’Ill in Illhaeusern.
Ein Eintrittsticket in Form einer Bahnsteigkarte für die 1987er Ausstellung „Die Reise nach Berlin” lag in der Ausgabe von 1986 von Voß’ Reiseführer für Literaturfreunde Berlin vom Alex bis zum Kudamm. Hier ist eine der vielen Schnittstellen illustriert, die zwischen den Reisen und den Veröffentlichungen von Karl Voß bestehen.
Auffällig bei diesen Ensembles ist, dass sich oft Dokumente ganz unterschiedlicher Daten zusammenfinden und in Bücher mit anderen Erscheinungsdaten abgelegt und aufbewahrt werden. Der gemeinsame Nenner dieses Ablagesystems von Karl Voß ist immer der Autor.
Aus den Büchern anderer Autoren
In einem ganz anderen Kontext war die Identifikation eines Manuskripts nicht so einfach. In einem Band der 1171 Bände umfassenden Bibliothek von José Ensch befand sich ein handschriftlicher Brief von Charles Baudelaire, oder so sah es auf den ersten Blick aus. Erst nach längeren Recherchen von Ludivine Jehin und Myriam Sunnen stellte sich heraus, dass es sich
hier um ein täuschend echtes Faksimile handelt, das die Autorin und Lehrerin wohl auch in ihrem Französischunterricht im Lycée Robert-Schuman eingesetzt hat. Oft liegen bei José Ensch, wie auch bei anderen, als Einschübe die Rezensionen aus in- und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften bei, die den Kauf des jeweiligen Buchs überhaupt erst angeregt haben. Bei Ensch fällt auf, dass sie sehr regelmäßig die luxemburgische und vor allem französische Presse und Fernsehsendungen verfolgt hat, um kulturell auf dem Laufenden zu bleiben. In ihrem Bestand finden sich neben Gedicht- und Kunstbänden auch zahlreiche Ausstellungskataloge aus Paris oder Südfrankreich, in denen sich neben den Eintrittskarten auch der Hinweis findet, an welchem Datum sie die Ausstellung, oft zusammen mit ihrer Freundin, der französischen Dichterin Gisèle Prassinos, besichtigt hat.
Oft fördern die einliegenden Dokumente auch ganz anderes Wissen zutage. Bei dem 1952 anonym erschienen Gedichtband Un peu de tout... : il y en a pour tous les goûts! erlaubte erst ein Brief in dem antiquarisch angekauften Exemplar, den Text überhaupt einem Autor zuzuordnen. In dem Schreiben bittet Myrtil Bonn die Journalistin Katrin C. Martin, das Buch in der Zeitung La Meuse-Luxembourg zu besprechen, ohne ihn jedoch zu erwähnen.
Als eher unbedeutende Lesezeichen tauchen in den Büchern aber auch öfter Ferienpostkarten von unbekannten Freunden, handschriftliche Notizen, Ankündigungen oder Werbebotschaften ohne Bezug zum Buch oder zum Autor sowie Kassenzettel auf, die die Person eben gerade zur Hand hatte, als es darum ging, eine Seite zu markieren ohne sie umzuknicken. Diese Materialien werden meist nicht aufbewahrt, da sie der Forschung und den Lesern keinen Mehrwert an Erkenntnis bringen.