Es ist ein Weckruf für die ganze Gesellschaft
Lange Zeit war vor allem die katholische Kirche im kritischen Blick der Öffentlichkeit, wenn es um sexuelle Gewalt und Missbrauch ging. Dies zu Recht, denn das Ausmaß der Verfehlungen, an Schutzbefohlenen begangen, war und ist auch mit dem Abstand einiger Jahre nach den Schritt-für-SchrittEnthüllungen erschreckend. Auch wenn manche Katholikinnen und Katholiken irgendwann das Gefühl hatten, jetzt müsse es doch mal gut sein mit dem Zurückblicken und Aufarbeiten, kann dieser schmerzhafte Prozess noch lange nicht beendet sein. Die evangelische Kirche stand jahrelang im Schatten der Aufmerksamkeit. Dies hatte mit öffentlichen Fehlannahmen zu tun, etwa, dass Missbrauch ein Phänomen wäre, das bei den Katholiken mit ihrem Zölibat und ihrer Autoritätshörigkeit viel stärker vorkommen würde als bei den reformorientierten Protestanten, wo Priester (und Priesterinnen) heiraten dürfen, eine freie Sexualität leben können und irgendwie nicht so richtig verdächtig sind, sich an Schutzbefohlenen zu vergehen.
Doch diese Annahme ist ein Trugschluss. Das liegt jetzt schwarz auf weiß vor, seitdem die Evangelische Kirche in Deutschland eine Studie vorgelegt hat – zwar reichlich spät, aber besser spät als nie. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes unabhängiges Forscherteam hat demnach 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter erfasst. Die Forscher heben jedoch hervor, dass dies nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ist.
Und damit haben sie recht. Ein für die evangelische Kirche schmerzhafter, aber notwendiger und womöglich sogar heilsamer Prozess hat begonnen. Reaktionäre Kreise in der katholischen Kirche dürften sich nun in klammheimlicher Schadenfreude üben, weil sie nicht mehr alleine am Pranger stehen. Doch derlei Denkweise ist brandgefährlich, denn der eigene Weg der Aufklärung ist noch weit. Auch im Erzbistum Luxemburg, wo man zwar eine vergleichsweise fortschrittliche Präventionsarbeit betreibt, aber noch mit der Aufklärung früherer Verbrechen hinterherhinkt.
Denn eine systematische, schonungslose, unabhängige wissenschaftliche Studie zu Missbrauch in Luxemburg hat es nie gegeben, lediglich eine nach heutigen Maßstäben überholte Hotline. Dies zu ändern ist die Aufgabe nicht nur des Kardinals, sondern auch der Regierung, die eine Mitverantwortung trägt. Sträflich hat die Regierung Bettel die Chance verpasst, die verschiedenen Wellen der Aufklärung bei der katholischen Kirche als Weckruf zu verstehen und den Kampf gegen Missbrauch in allen Gesellschaftsbereichen zu einer Priorität zu machen. Die Regierung Frieden hat nun eine Chance, dieses Versäumnis nachzuholen. Wenn sich bei der zölibatsbefreiten evangelischen Kirche derartige Abgründe auftun, ist es keine allzu schwere Denkaufgabe, den Bogen weiter zu spannen und auch bei Schulen, Vereinen und anderen Institutionen genauer hinzuschauen, als das bislang in Luxemburg der Fall ist.
Die Regierung Bettel hat die Chance verpasst, den Kampf gegen Missbrauch zu einer Priorität zu machen.