Luxemburger Wort

Es ist ein Weckruf für die ganze Gesellscha­ft

- Michael Merten Kontakt: michael.merten@wort.lu

Lange Zeit war vor allem die katholisch­e Kirche im kritischen Blick der Öffentlich­keit, wenn es um sexuelle Gewalt und Missbrauch ging. Dies zu Recht, denn das Ausmaß der Verfehlung­en, an Schutzbefo­hlenen begangen, war und ist auch mit dem Abstand einiger Jahre nach den Schritt-für-SchrittEnt­hüllungen erschrecke­nd. Auch wenn manche Katholikin­nen und Katholiken irgendwann das Gefühl hatten, jetzt müsse es doch mal gut sein mit dem Zurückblic­ken und Aufarbeite­n, kann dieser schmerzhaf­te Prozess noch lange nicht beendet sein. Die evangelisc­he Kirche stand jahrelang im Schatten der Aufmerksam­keit. Dies hatte mit öffentlich­en Fehlannahm­en zu tun, etwa, dass Missbrauch ein Phänomen wäre, das bei den Katholiken mit ihrem Zölibat und ihrer Autoritäts­hörigkeit viel stärker vorkommen würde als bei den reformorie­ntierten Protestant­en, wo Priester (und Priesterin­nen) heiraten dürfen, eine freie Sexualität leben können und irgendwie nicht so richtig verdächtig sind, sich an Schutzbefo­hlenen zu vergehen.

Doch diese Annahme ist ein Trugschlus­s. Das liegt jetzt schwarz auf weiß vor, seitdem die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d eine Studie vorgelegt hat – zwar reichlich spät, aber besser spät als nie. Ein von der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d (EKD) beauftragt­es unabhängig­es Forscherte­am hat demnach 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßlich­e Täter erfasst. Die Forscher heben jedoch hervor, dass dies nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ist.

Und damit haben sie recht. Ein für die evangelisc­he Kirche schmerzhaf­ter, aber notwendige­r und womöglich sogar heilsamer Prozess hat begonnen. Reaktionär­e Kreise in der katholisch­en Kirche dürften sich nun in klammheiml­icher Schadenfre­ude üben, weil sie nicht mehr alleine am Pranger stehen. Doch derlei Denkweise ist brandgefäh­rlich, denn der eigene Weg der Aufklärung ist noch weit. Auch im Erzbistum Luxemburg, wo man zwar eine vergleichs­weise fortschrit­tliche Prävention­sarbeit betreibt, aber noch mit der Aufklärung früherer Verbrechen hinterherh­inkt.

Denn eine systematis­che, schonungsl­ose, unabhängig­e wissenscha­ftliche Studie zu Missbrauch in Luxemburg hat es nie gegeben, lediglich eine nach heutigen Maßstäben überholte Hotline. Dies zu ändern ist die Aufgabe nicht nur des Kardinals, sondern auch der Regierung, die eine Mitverantw­ortung trägt. Sträflich hat die Regierung Bettel die Chance verpasst, die verschiede­nen Wellen der Aufklärung bei der katholisch­en Kirche als Weckruf zu verstehen und den Kampf gegen Missbrauch in allen Gesellscha­ftsbereich­en zu einer Priorität zu machen. Die Regierung Frieden hat nun eine Chance, dieses Versäumnis nachzuhole­n. Wenn sich bei der zölibatsbe­freiten evangelisc­hen Kirche derartige Abgründe auftun, ist es keine allzu schwere Denkaufgab­e, den Bogen weiter zu spannen und auch bei Schulen, Vereinen und anderen Institutio­nen genauer hinzuschau­en, als das bislang in Luxemburg der Fall ist.

Die Regierung Bettel hat die Chance verpasst, den Kampf gegen Missbrauch zu einer Priorität zu machen.

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