Pariser Verfassungsrat kippt Teile des Einwanderungsgesetzes
Die Weisen in Frankreich beanstanden 35 der 86 Artikel. Auch die Benachteiligung von Migranten bei der Sozialhilfe wird kassiert
Der französische Verfassungsrat hat das umstrittene Einwanderungsgesetz in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt. Die neun „Weisen“beanstandeten 35 der 86 Artikel, darunter die besonders stark kritisierte Benachteiligung von Eingewanderten aus NichtEU-Ländern bei den Sozialleistungen. Für das Kindergeld war eine Zahlung nach 30 Monaten für arbeitende und von fünf Jahren für nicht-arbeitende Migranten vorgesehen. Auch den Plan, ausländischen Kindern die Staatsangehörigkeit nicht mehr bei der Geburt, sondern erst nach 18 Jahren zu geben, kassierten die Verfassungshüter.
Die Nationalversammlung hatte das Einwanderungsgesetz vor Weihnachten mit den Stimmen des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) verabschiedet. Die Fraktionschefin des RN, Marine Le Pen, sprach hinterher von einem „ideologischen Sieg“. Schon ihr Vater, der mehrfach verurteilte Rassist und Antisemit Jean-Marie Le Pen, hatte für eine „nationale Präferenz“gekämpft, die Französinnen und Franzosen gegenüber Eingewanderten bevorzugt.
Ursprünglich hatte der Text schärfere Regeln zur Abschiebung von Straftätern und gleichzeitig Erleichterung für die Einbürgerung von Beschäftigten in Mangelberufen vorgesehen. „Hart mit den Bösen und gut mit den Guten“, lautete die Formel, mit der Innenminister Gérald Darmanin sein Gesetz anpries. Der 41-Jährige freute sich nach dem Urteil des Verfassungsrates, dass die „Weisen“die Regelungen seiner ursprünglichen Version nicht beanstandet hätten.
Die verschärfte Version war durch ein Vermittlungsverfahren zustande gekommen, bei dem die konservativen Républicains dem Text ihren Stempel aufdrückten. Da das Regierungslager in der ersten Parlamentskammer keine absolute Mehrheit hat, war es auf die Stimmen der immer weiter nach rechtsaußen abdriftenden Républicains angewiesen gewesen. Rund ein Viertel der Abgeordneten des Regierungslagers stimmten gegen den Text oder enthielten sich. Gesundheitsminister Aurélien Rousseau trat aus Protest zurück. Präsident Emmanuel Macron hatte bereits vor Weihnachten eingeräumt, dass ihm Teile des Gesetzes nicht gefielen. Dennoch sei der Text ein „Schutzschild“, der bisher gefehlt habe.
„Das ist eine große Ohrfeige“
Die Verfassungshüter unter Vorsitz des früheren sozialistischen Regierungschefs Laurent Fabius kassierten 32 Artikel aus formalen Gründen. Sie waren dem Gesetz im Vermittlungsverfahren nachträglich aufgepfropft worden, ohne mit dem ursprünglichen Vorhaben etwas zu tun zu haben. Dazu gehören neben der Unterscheidung bei der Sozialhilfe Kautionszahlung für ausländische Studieren
de und strengere Regeln bei der Familienzusammenführung. Nur drei Artikel bezeichnen die Weisen als „nicht verfassungsgemäß“, darunter die jährliche Definition von Einwanderungsquoten.
Marine Le Pen warf der Regierung „Amateurismus“vor. „Die Franzosen werden also weiter die Verrücktheit der Migration hinnehmen müssen, die für Frankreich so schlecht ist“, erklärte sie. Nur eine Verfassungsreform könne die Einwanderungsprobleme lösen. Le Pen will im Fall ihrer Wahl zur Präsidentin ein Referendum über die Einwanderung abhalten. Auch die Républicains fordern ein solches Referendum.
Das Gesetz hat das Prinzip des Humanismus verramscht. Julien Bayou, Grünen-Politiker
Im vergangenen Jahr hatte das Innenministerium gut 145.000 Asylansträge gezählt – sechs Prozent mehr als im Vorjahr. In Umfragen sprechen sich rund drei Viertel der Französinnen und Franzosen für strengere Einwanderungsregeln aus. Gleichzeitig protestierten am vergangenen Sonntag rund 75.000 Menschen, vor allem Anhänger der Linksparteien, gegen das Einwanderungsgesetz. „Das Gesetz hat das Prinzip des Humanismus verramscht“, sagte der Grünen-Politiker Julien Bayou nach der Entscheidung des Verfassungsrates. „Das ist eine große Ohrfeige.“Die Linkspartei La France Insoumise forderte die Regierung auf, ihr „völlig amputiertes“Projekt nun zurückzuziehen.