„Nur die Spitze der Spitze des Eisbergs“
In der Evangelischen Kirche in Deutschland ist sexuelle Gewalt nicht seltener als in der katholischen. Eine Studie zu deren Aufarbeitung belegt Aufklärungsunwillen, aktives Vertuschen und Opfer-Bashing
Am Morgen hat Detlev Zander wieder ein Interview gegeben, im „Deutschlandfunk“, eines von vielen. Auf die Frage, was ihm widerfahren sei, hat er geantwortet: „Ich habe vom vierten bis zum vierzehnten Lebensjahr schweren sexuellen Missbrauch erlebt und physische und psychische Gewalt – und religiöse Gewalt.“Da hat seine Stimme mit ihrer gemütlich-schwäbischen Intonation kein bisschen brüchig geklungen. Später dann schon.
Als er von seiner Bindungsunfähigkeit berichtet, von „einem schweren Suizidversuch“und davon, wie ihm ausgerechnet die Institution, in deren Obhut er so vielfältig vergewaltigt wurde, nicht nur Hilfe verweigert hat, sondern auch noch versucht, ihn erneut zu erniedrigen. „Diskreditiert“habe man ihn, „fertiggemacht“, gesagt, „ ,der lügt’ und ,das ist ein schwieriger Mensch’ oder ,das ist ein typisches Heimkind’ “.
Letzteres ist in einem ganz anderen und schrecklichen Sinn nicht falsch. Sexuelle Gewalt ist in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) keine Seltenheit. Seit Donnerstagmittag liegt der Beweis vor, auf knapp 900 Seiten: die „ForuM-Studie“. Ein großes Team forschender Wissenschaftler von sieben deutschen Hochschulen hat in den vergangenen drei Jahren untersucht, wo und wie es sexualisierte und andere Gewalt gegeben hat in den 20 selbstständigen evangelischen Landeskirchen und in der Diakonie. Bis dato zählte die EKD 858 Betroffene, sehr viel weniger als die 3.677 Opfer von Priester-Gewalt, die 2018 in einem ähnlichen Forschungsprojekt, der MHG-Studie, Wissenschaftler für die Römisch-katholische Kirche ermittelten.
Nachforschungen behindert
Noch hat am Mittag an der Uni Hannover der ForuM-Studie-Federführende, Professor Martin Wazlawik, die drei Bände der amtierenden EKD-Ratsvorsitzenden Kirsten Fehrs nicht übergeben – da sagt Detlev Zander, inzwischen Sprecher der Betroffenenvertretung im „Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt“der EKD: „Eigentlich sollten sämtliche Glocken läuten.“Und dass dieser Mittwoch „ein rabenschwarzer Tag“sei für EKD und Diakonie – aber „für die Betroffenen ein guter“. Sie stünden nun „im Mittelpunkt“, sie seien gehört worden für die Studie, ihre „Erfahrungen“darin zu lesen – und Kirche und Diakonie „müssen jetzt Verantwortung übernehmen“.
Zunächst müssen Fehrs und Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst, Sprecherin der Beauftragten im Beteiligungsforum, hören, wie Martin Wazlawik sagt, die Landeskirchen hät
Kirche und Diakonie aber, sagen die Betroffenen, sei es vor allem um den Schutz der Täter gegangen.
ten den Wissenschaftlern die Arbeit nicht leicht gemacht; nur eine von den sehr kleinen habe alle Personalakten zur Verfügung gestellt – alle anderen und die Diakonie aber lediglich die Disziplinarakten. So kommen die Forscher auf 1.259 Beschuldigte, davon 511 Pfarrpersonen, zumeist Männer, im Schnitt 43 Jahre alt „und die meisten verheiratet“. Damit ist eine der Lebenslügen der EKD geplatzt: Dass sexueller Missbrauch unter protestantischen Geistlichen selten sei – weil sie ja, anders als ihre katholischen Kollegen, nicht zum zölibatären Leben gezwungen seien.
Später wird Professor Harald Dressing sagen, „die evangelische Kirche“habe das mit den Personalakten „schlechter hinbekommen“als „die Diözesen der katholischen Kirche“. Wazlawik will keine „Verweigerung“unterstellen; eher mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit. Dressing hat die Zahlen der einen Landeskirche auf alle 20 hochgerechnet – aber, warnt er, „das ist keine seriöse wissenschaftliche Analyse“. Es ergäben sich dann 3.497 Beschuldigte, davon 1.402 Pfarrpersonen – „fast dieselben Zahlen wie in der katholischen Kirche“– und 9.355 Betroffene. Und, sagt Dressing, „hinter jeder Zahl verbirgt sich schlimmes menschliches Leid – und so sehen wir die Zahlen auch“.
Kirche und Diakonie aber, sagen die Betroffenen, sei es vor allem um den Schutz der Täter gegangen. Ihnen, den Opfern, hat man abverlangt, den Tätern doch zu vergeben – und bei Weigerung drohte der soziale Ausschluss. „Wir brauchen“, sagt Kirchenpräsidentin Wüst, „Problembewusstsein bis in die letzte Kirchengemeinde hinein.“
Die Studie belege, sagt aber Wazlawik, zunächst gravierendes Leitungsversagen. Täter wurden – wie in der katholischen Kirche auch – von einer Landeskirche zur nächsten abgeschoben: ohne Information oder auch nur einen Hinweis auf den Grund. Die föderale Struktur der EKD machte das leicht. Und auch, jedes Opfer als „Einzelfall“abzutun. Von den vielen Serientätern wollten die Kirchenoberen lieber nichts wissen.
Das ist jetzt vorbei. Die in der Studie belegten Zahlen, sagt Dressing, der Mann mit der Hochrechnung, seien gerade mal „die Spitze der Spitze des Eisbergs“.