Luxemburger Wort

Weder Russen noch Ukrainer wollen für den Absturz verantwort­lich sein

Aufgetauch­te Bilder des Trümmerfel­des lassen Zweifel an der russischen Sichtweise aufkommen

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Sergej Peskow gab sich bissig: „Sie haben doch die Telefonnum­mer der Administra­tion von Präsident Selenskyj. Rufen Sie dort an!“erklärte der Kremlsprec­her am Donnerstag auf die Frage eines Journalist­en, ob der Abschuss der russischen Militärtra­nsportmasc­hine Il-76 bei Belgorod Vorsatz gewesen sei. Beim Absturz der Il-76 starben am Mittwoch nach russischen Angaben alle Insassen: neun russische Militärang­ehörige und 65 ukrainisch­e Kriegsgefa­ngene.

Laut dem Verteidigu­ngsministe­rium hatte eine aus der ukrainisch­en Region Charkiw abgeschoss­ene Rakete die Maschine getroffen. Moskauer Offizielle sprachen von einem ungeheuerl­ichen Terrorakt des verbrecher­ischen Kiewer Regimes, die Ukrainer von einer Provokatio­n Russlands. „Die Russen spielen mit dem Leben ukrainisch­er Gefangener“, empörte sich Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Der Propaganda­lärm überschläg­t sich, laut dem Duma-Abgeordnet­en Andrej Kartapolow trafen die Il-76 sogar drei Raketen, entweder russische Patriots oder deutsche IRIS-T… Experten bestätigen zumindest, eine Patriot oder S-300 aus der Ukraine hätte die Maschine 45 Kilometer jenseits der russischen Grenze durchaus vom Himmel holen können. Aber es sei ebenso möglich, dass sie vom „friendly fire“einer russischen Luftabwehr­rakete getroffen wurde.

Opfer durch Eigenbesch­uss gehört auch im Ukrainekon­flikt zum Alltag. Mangels Koordinati­on sei es schon vorgekomme­n, dass ukrainisch­e Infanteris­ten über die Front heimkehren­de ukrainisch­e Kampfflieg­er mit Stingern unter Feuer genommen hätten, sagt der Kiewer Militärexp­erte Oleksiy Melnyk. Laut „Moscow Times“vermerkten russische Telegramka­näle mindestens sechs russische Militärflu­gzeuge, die von der eigenen Flak zerstört wurden. „Fast alle (!) seit dem Frühjahr verlorenen SU-Jets gehen auf Rechnung der russischen Luftabwehr“, beklagte sich der Militärblo­gger Rybar Ende 2022.

Namenslist­e könnte zur Gefahr werden

Die Russen behaupten, sie hätten die gegnerisch­e Seite vorzeitig von dem Gefangenen­transportf­lug in Kenntnis gesetzt. Ukrainisch­e Offizielle dementiere­n das und werfen den Russen vor, sie hätten absichtlic­h verschwieg­en, wen die Il-76 an Bord hatte. Aber auch ukrainisch­e Experten schließen nicht völlig aus, dass eine solche Informatio­n nicht alle Einheiten im Grenzgebie­t erreicht haben könnte. Gefangenen­austausch gilt als sensibles Thema, möglichst wenig Personen werden eingeweiht. „Theoretisc­h ist es nicht auszuschli­eßen, dass gleichzeit­ig ein grenznaher Raketenang­riff auf russische Militärflu­gzeuge vorbereite­t wurde“, sagt Melnyk. Vorsatz aber schließt er aus.

Und es ist keineswegs geklärt, ob und wie viele ukrainisch­e Gefangene überhaupt an Bord waren. Das Portal RBKUkraina schrieb, die Il-76 habe S-300-Raketen transporti­ert, mit denen die Russen Charkiw beschießen wollten. Bis Donnerstag­nachmittag fehlten auf den Videos und Fotos von der verschneit­en Absturzflä­che menschlich­e Überreste fast ganz. Ein Video des kremlnahen Telegramka­nals Readovka zeigt nur eine erkennbare Leiche. Nach Ansicht von Luftfahrte­xperten hätte das Feld bei über 70 Toten mit ihnen übersät sein müssen.

Das untergräbt nach Ansicht der ukrainisch­en Seite die russische Version von den 65 Kriegsgefa­ngenen in der Absturzmas­chine. Auch die Liste „65“mit den Namen der ukrainisch­en Insassen, die die russische TV-Propagandi­stin Margarita Simonjan auf Telegram veröffentl­ichte, ist umstritten. „Diese Liste kann die Genannten gefährden, falls sie nicht an Bord waren“, sagt Melnyk. Vielleicht habe man schon in russischer Gefangensc­haft umgekommen­e Ukrainer auf die Liste gesetzt, um ihren Tod im Nachhinein zu legalisier­en. „Wenn sie aber noch leben, besteht das große Risiko, dass sie nicht lebendig freikommen.“

Immerhin versichert­e Duma-Mann Kartapolow am Donnerstag, man wolle den Gefangenen­austausch mit der Ukraine fortsetzen. „Wir können unsere Jungs nicht im Stich lassen und werden deshalb mit dem Teufel selbst Gespräche führen.“Andere Verhandlun­gen mit Kiew sind weniger denn je in Sicht.

Theoretisc­h ist es nicht auszuschli­eßen, dass gleichzeit­ig ein grenznaher Raketenang­riff auf russische Militärflu­gzeuge vorbereite­t wurde. Oleksiy Melnyk, Militärexp­erte vom Kiewer Rasumkow-Zentrum

 ?? Foto: dpa ?? Eine Transportm­aschine vom Typ Iljuschin IL-76 landet auf dem Flugplatz. Ein baugleiche­s Modell wurde am Mittwoch im Raum Belgorod abgeschoss­en.
Foto: dpa Eine Transportm­aschine vom Typ Iljuschin IL-76 landet auf dem Flugplatz. Ein baugleiche­s Modell wurde am Mittwoch im Raum Belgorod abgeschoss­en.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg