Weder Russen noch Ukrainer wollen für den Absturz verantwortlich sein
Aufgetauchte Bilder des Trümmerfeldes lassen Zweifel an der russischen Sichtweise aufkommen
Sergej Peskow gab sich bissig: „Sie haben doch die Telefonnummer der Administration von Präsident Selenskyj. Rufen Sie dort an!“erklärte der Kremlsprecher am Donnerstag auf die Frage eines Journalisten, ob der Abschuss der russischen Militärtransportmaschine Il-76 bei Belgorod Vorsatz gewesen sei. Beim Absturz der Il-76 starben am Mittwoch nach russischen Angaben alle Insassen: neun russische Militärangehörige und 65 ukrainische Kriegsgefangene.
Laut dem Verteidigungsministerium hatte eine aus der ukrainischen Region Charkiw abgeschossene Rakete die Maschine getroffen. Moskauer Offizielle sprachen von einem ungeheuerlichen Terrorakt des verbrecherischen Kiewer Regimes, die Ukrainer von einer Provokation Russlands. „Die Russen spielen mit dem Leben ukrainischer Gefangener“, empörte sich Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Der Propagandalärm überschlägt sich, laut dem Duma-Abgeordneten Andrej Kartapolow trafen die Il-76 sogar drei Raketen, entweder russische Patriots oder deutsche IRIS-T… Experten bestätigen zumindest, eine Patriot oder S-300 aus der Ukraine hätte die Maschine 45 Kilometer jenseits der russischen Grenze durchaus vom Himmel holen können. Aber es sei ebenso möglich, dass sie vom „friendly fire“einer russischen Luftabwehrrakete getroffen wurde.
Opfer durch Eigenbeschuss gehört auch im Ukrainekonflikt zum Alltag. Mangels Koordination sei es schon vorgekommen, dass ukrainische Infanteristen über die Front heimkehrende ukrainische Kampfflieger mit Stingern unter Feuer genommen hätten, sagt der Kiewer Militärexperte Oleksiy Melnyk. Laut „Moscow Times“vermerkten russische Telegramkanäle mindestens sechs russische Militärflugzeuge, die von der eigenen Flak zerstört wurden. „Fast alle (!) seit dem Frühjahr verlorenen SU-Jets gehen auf Rechnung der russischen Luftabwehr“, beklagte sich der Militärblogger Rybar Ende 2022.
Namensliste könnte zur Gefahr werden
Die Russen behaupten, sie hätten die gegnerische Seite vorzeitig von dem Gefangenentransportflug in Kenntnis gesetzt. Ukrainische Offizielle dementieren das und werfen den Russen vor, sie hätten absichtlich verschwiegen, wen die Il-76 an Bord hatte. Aber auch ukrainische Experten schließen nicht völlig aus, dass eine solche Information nicht alle Einheiten im Grenzgebiet erreicht haben könnte. Gefangenenaustausch gilt als sensibles Thema, möglichst wenig Personen werden eingeweiht. „Theoretisch ist es nicht auszuschließen, dass gleichzeitig ein grenznaher Raketenangriff auf russische Militärflugzeuge vorbereitet wurde“, sagt Melnyk. Vorsatz aber schließt er aus.
Und es ist keineswegs geklärt, ob und wie viele ukrainische Gefangene überhaupt an Bord waren. Das Portal RBKUkraina schrieb, die Il-76 habe S-300-Raketen transportiert, mit denen die Russen Charkiw beschießen wollten. Bis Donnerstagnachmittag fehlten auf den Videos und Fotos von der verschneiten Absturzfläche menschliche Überreste fast ganz. Ein Video des kremlnahen Telegramkanals Readovka zeigt nur eine erkennbare Leiche. Nach Ansicht von Luftfahrtexperten hätte das Feld bei über 70 Toten mit ihnen übersät sein müssen.
Das untergräbt nach Ansicht der ukrainischen Seite die russische Version von den 65 Kriegsgefangenen in der Absturzmaschine. Auch die Liste „65“mit den Namen der ukrainischen Insassen, die die russische TV-Propagandistin Margarita Simonjan auf Telegram veröffentlichte, ist umstritten. „Diese Liste kann die Genannten gefährden, falls sie nicht an Bord waren“, sagt Melnyk. Vielleicht habe man schon in russischer Gefangenschaft umgekommene Ukrainer auf die Liste gesetzt, um ihren Tod im Nachhinein zu legalisieren. „Wenn sie aber noch leben, besteht das große Risiko, dass sie nicht lebendig freikommen.“
Immerhin versicherte Duma-Mann Kartapolow am Donnerstag, man wolle den Gefangenenaustausch mit der Ukraine fortsetzen. „Wir können unsere Jungs nicht im Stich lassen und werden deshalb mit dem Teufel selbst Gespräche führen.“Andere Verhandlungen mit Kiew sind weniger denn je in Sicht.
Theoretisch ist es nicht auszuschließen, dass gleichzeitig ein grenznaher Raketenangriff auf russische Militärflugzeuge vorbereitet wurde. Oleksiy Melnyk, Militärexperte vom Kiewer Rasumkow-Zentrum