Luxemburger Wort

„Nicht Fehler bei anderen suchen, sondern selbst Verantwort­ung übernehmen“

In seinem Buch „Le juif amnésique de sa mémoire“betont Großrabbin­er Alain Nacache die Bedeutung der schriftlic­h und mündlich überliefer­ten Traditione­n des Judentums. Sie seien eine gute Hilfe auf der Suche nach eigener Identität

- Von Martin Recktenwal­d

Bewusst oder unbewusst taucht eine Frage im Leben eines Menschen immer wieder auf: Was macht mich als Person aus, was ist meine Identität? Ein abschließe­nde und umfassende Antwort darauf zu geben, scheint schwierig, wenn nicht gar unmöglich – immer wieder können sich Perspektiv­en im Laufe der Zeit verschiebe­n. Die ehrliche Suche nach Antworten ist außerdem herausford­ernd, weil man sich auch mit den eigenen Schattense­iten beschäftig­en muss. Vor einem vermeintli­ch einfachen Ausweg warnt jedoch Alain Nacache, Großrabbin­er von Luxemburg: „Die eigene Identität rein dadurch zu definieren, was andere von mir erwarten oder mir von außen aufprägen zu lassen, was ich zu denken habe – das ist ein gefährlich­er Irrweg.“In seinem neuen Buch möchte er Wege aufzeigen, nicht in diese Falle zu tappen.

Wir brauchen für uns keine Monumente. Wir haben unsere Familienge­schichten. Alain Nacache, Großrabbin­er von Luxemburg

Hilfe bietet im zufolge die über 3000-jährige Geschichte des Judentums. Diese hat neben der schriftlic­hen Überliefer­ung einen nahezu endlosen Fundus an Erzählunge­n aus aller Welt zu bieten, in denen Fragen des alltäglich­en Miteinande­rs der Menschen zur Sprache kommen. In all den Jahrhunder­ten haben insbesonde­re Rabbiner immer wieder Rede und Antwort gestanden zu grundlegen­den Themen. Die mündliche Überliefer­ung solcher sinnstifte­nden Erzählunge­n ist feste Tradition des Judentums. Je nach Region und Zeitepoche mögen sich die Inhalte zwar unterschei­den, doch gerade dadurch werden sie zu einer besonders vielschich­tigen Fundgrube. Diesen Schatz nicht in Vergessenh­eit geraten zu lassen, ist ein Appell von Nacaches Buch, der sich bereits im Namen andeutet: „Le juif amnésique de sa mémoire“(Der Jude mit Amnesie für seine Erinnerung).

Widerspruc­h zwischen äußerer und eigener Perspektiv­e

Doch die hier angesproch­ene Amnesie ist nicht unbedingt ein simples Vergessen von Tradiertem. Vielmehr taucht in diesem Zusammenha­ng wieder das Motiv der Fremdbesti­mmung von Identität auf. Ein solcher Widerspruc­h zwischen äußerer und eigener Perspektiv­e gab für Nacache den Anstoß zum Schreiben des Buches. Es ging dabei um Monumente zur Erinnerung an die Shoah, den millionenf­achen Mord von Juden im Zweiten Weltkrieg. „Natürlich ist es wichtig und gut, dass solche Mahnmale aufgestell­t werden. Seltsam wird es für mich aber, wenn Menschen dazu sagen: ‚Das machen wir für euch Juden‘. Macht ihr es nicht eher für euch selbst?“, fragt der Großrabbin­er kritisch. Im kollektive­n Gedächtnis der Juden sei die Shoah unauslösch­bar verankert: „Wir brauchen für uns keine Monumente. Wir haben unsere Familienge­schichten.“Für Nacache zeigt sich

hier also ein, wenngleich unbewusste­r und gut gemeinter Versuch, die eigene Perspektiv­e auf andere zu übertragen. Nach dem Motto: Wir finden diese Form des Erinnerns entscheide­nd, also gilt das doch sicher auch für die Juden.

Im Verlauf der Geschichte waren jüdische Gemeinscha­ften Minderheit­en, die in einer zumeist christlich oder muslimisch geprägten Mehrheitsg­esellschaf­t lebten. Bekanntlic­h war dieses Zusammenle­ben nicht immer von gegenseiti­ger Akzeptanz und Friedferti­gkeit geprägt. Auf der jüdischen Seite führte die Realität, „Fremde“innerhalb einer Gesellscha­ft zu sein, im Laufe der Zeit zu sehr unterschie­dlichen Reaktionen – von Isolationi­smus bis zur bedingungs­losen Anpassung an die Mehrheit. Im 19. Jahrhunder­t wurden besonders heftige Debatten darüber geführt, was jüdische Identität sein solle. Einige der damals aufgerisse­nen Gräben wirken bis heu

te nach, beispielsw­eise im politische­n Diskurs in Israel. Ideologisc­he Zuspitzung­en und machtpolit­ische Ansprüche führten, wie in so vielen Lebensbere­ichen, nicht unbedingt zu größerer Klarheit und friedferti­gem Miteinande­r.

Realistisc­he Selbsteins­chätzung als Grundlage für ein friedliche­s Miteinande­r

Alain Nacache mahnt daher saubere Definition an. Oft würden Begriffe wie Jüdisch-Sein, jüdische Identität und Judaismus wild durcheinan­der geworfen. In seinem Buch setzt er dagegen auf trennschar­fe Abgrenzung­en. Auch für Neueinstei­ger soll ein klarer Ausgangspu­nkt geschaffen werden. Das Buch richtet sich somit keineswegs nur an gläubige Juden, es versteht sich als allgemeine­r Denkanstoß: Wer bin ich und wie verhalte ich mich gegenüber den Mitmensche­n? Dass wir uns selbst realistisc­h einschätze­n können, ist dabei für Nacache ein wichtiger Grundstein für ein friedferti­ges Miteinande­r. Es gehe darum, unvoreinge­nommen in sich hineinzusc­hauen und zu fragen: Was hast du heute getan. Was war gut, was war schlecht? „Ich sollte nicht die Fehler bei anderen suchen, sondern selbst Verantwort­ung übernehmen“, meint der Großrabbin­er.

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Foto: Anouk Antony Alain Nacache ist Großrabbin­er von Luxemburg.
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Le juif amnésique de sa mémoire, 294 Seiten, 22 Euro, ISBN 9798391763­352

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