„Nicht Fehler bei anderen suchen, sondern selbst Verantwortung übernehmen“
In seinem Buch „Le juif amnésique de sa mémoire“betont Großrabbiner Alain Nacache die Bedeutung der schriftlich und mündlich überlieferten Traditionen des Judentums. Sie seien eine gute Hilfe auf der Suche nach eigener Identität
Bewusst oder unbewusst taucht eine Frage im Leben eines Menschen immer wieder auf: Was macht mich als Person aus, was ist meine Identität? Ein abschließende und umfassende Antwort darauf zu geben, scheint schwierig, wenn nicht gar unmöglich – immer wieder können sich Perspektiven im Laufe der Zeit verschieben. Die ehrliche Suche nach Antworten ist außerdem herausfordernd, weil man sich auch mit den eigenen Schattenseiten beschäftigen muss. Vor einem vermeintlich einfachen Ausweg warnt jedoch Alain Nacache, Großrabbiner von Luxemburg: „Die eigene Identität rein dadurch zu definieren, was andere von mir erwarten oder mir von außen aufprägen zu lassen, was ich zu denken habe – das ist ein gefährlicher Irrweg.“In seinem neuen Buch möchte er Wege aufzeigen, nicht in diese Falle zu tappen.
Wir brauchen für uns keine Monumente. Wir haben unsere Familiengeschichten. Alain Nacache, Großrabbiner von Luxemburg
Hilfe bietet im zufolge die über 3000-jährige Geschichte des Judentums. Diese hat neben der schriftlichen Überlieferung einen nahezu endlosen Fundus an Erzählungen aus aller Welt zu bieten, in denen Fragen des alltäglichen Miteinanders der Menschen zur Sprache kommen. In all den Jahrhunderten haben insbesondere Rabbiner immer wieder Rede und Antwort gestanden zu grundlegenden Themen. Die mündliche Überlieferung solcher sinnstiftenden Erzählungen ist feste Tradition des Judentums. Je nach Region und Zeitepoche mögen sich die Inhalte zwar unterscheiden, doch gerade dadurch werden sie zu einer besonders vielschichtigen Fundgrube. Diesen Schatz nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist ein Appell von Nacaches Buch, der sich bereits im Namen andeutet: „Le juif amnésique de sa mémoire“(Der Jude mit Amnesie für seine Erinnerung).
Widerspruch zwischen äußerer und eigener Perspektive
Doch die hier angesprochene Amnesie ist nicht unbedingt ein simples Vergessen von Tradiertem. Vielmehr taucht in diesem Zusammenhang wieder das Motiv der Fremdbestimmung von Identität auf. Ein solcher Widerspruch zwischen äußerer und eigener Perspektive gab für Nacache den Anstoß zum Schreiben des Buches. Es ging dabei um Monumente zur Erinnerung an die Shoah, den millionenfachen Mord von Juden im Zweiten Weltkrieg. „Natürlich ist es wichtig und gut, dass solche Mahnmale aufgestellt werden. Seltsam wird es für mich aber, wenn Menschen dazu sagen: ‚Das machen wir für euch Juden‘. Macht ihr es nicht eher für euch selbst?“, fragt der Großrabbiner kritisch. Im kollektiven Gedächtnis der Juden sei die Shoah unauslöschbar verankert: „Wir brauchen für uns keine Monumente. Wir haben unsere Familiengeschichten.“Für Nacache zeigt sich
hier also ein, wenngleich unbewusster und gut gemeinter Versuch, die eigene Perspektive auf andere zu übertragen. Nach dem Motto: Wir finden diese Form des Erinnerns entscheidend, also gilt das doch sicher auch für die Juden.
Im Verlauf der Geschichte waren jüdische Gemeinschaften Minderheiten, die in einer zumeist christlich oder muslimisch geprägten Mehrheitsgesellschaft lebten. Bekanntlich war dieses Zusammenleben nicht immer von gegenseitiger Akzeptanz und Friedfertigkeit geprägt. Auf der jüdischen Seite führte die Realität, „Fremde“innerhalb einer Gesellschaft zu sein, im Laufe der Zeit zu sehr unterschiedlichen Reaktionen – von Isolationismus bis zur bedingungslosen Anpassung an die Mehrheit. Im 19. Jahrhundert wurden besonders heftige Debatten darüber geführt, was jüdische Identität sein solle. Einige der damals aufgerissenen Gräben wirken bis heu
te nach, beispielsweise im politischen Diskurs in Israel. Ideologische Zuspitzungen und machtpolitische Ansprüche führten, wie in so vielen Lebensbereichen, nicht unbedingt zu größerer Klarheit und friedfertigem Miteinander.
Realistische Selbsteinschätzung als Grundlage für ein friedliches Miteinander
Alain Nacache mahnt daher saubere Definition an. Oft würden Begriffe wie Jüdisch-Sein, jüdische Identität und Judaismus wild durcheinander geworfen. In seinem Buch setzt er dagegen auf trennscharfe Abgrenzungen. Auch für Neueinsteiger soll ein klarer Ausgangspunkt geschaffen werden. Das Buch richtet sich somit keineswegs nur an gläubige Juden, es versteht sich als allgemeiner Denkanstoß: Wer bin ich und wie verhalte ich mich gegenüber den Mitmenschen? Dass wir uns selbst realistisch einschätzen können, ist dabei für Nacache ein wichtiger Grundstein für ein friedfertiges Miteinander. Es gehe darum, unvoreingenommen in sich hineinzuschauen und zu fragen: Was hast du heute getan. Was war gut, was war schlecht? „Ich sollte nicht die Fehler bei anderen suchen, sondern selbst Verantwortung übernehmen“, meint der Großrabbiner.