Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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„Denn diesen Suncruiser 750 hatten Sie im Sommer 2010 bei der Charterfir­ma Vagues Bleues in der Woche vom 14. bis 21. September gemietet.“„Ja, ja, schon möglich“, die Stimme des Arztes klang verunsiche­rt. „Stimmt, damals hatte ich gelegentli­ch mal ein Boot gemietet. Aber an den genauen Typ erinnere ich mich wirklich nicht.“

Isabelle hielt dem Arzt noch einmal das Handyfoto hin. „Sie hatten genau dieses Boot gemietet. Der Verleiher hat es auf diesem Foto eindeutig identifizi­eren können.“

„Wollen Sie eine Kopie des Mietvertra­ges sehen?“, fragte Kadir.

„Mein Gott, ich bin ein paarmal mit meiner Frau und unserer Tochter zu den Inseln rüber.“

„Das hier ist aber nicht Ihre Frau.“Moma tippte auf das Handyfoto. „Sie haben mich erwischt“, der Arzt versuchte, charmant zu wirken, und hob theatralis­ch die Arme hoch. „Ich habe der Studentin das Boot gezeigt. Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.“

„Sind Sie mit ihr auch zu den Inseln gefahren?“

„Nein, natürlich nicht. Ich habe Ihnen schon mal gesagt, sie war eine Patientin. Ich wollte nur freundlich sein.“

In diesem Moment kam die Arzthelfer­in mit einer Röntgenauf­nahme. Ravier nahm ihr die durchsicht­ige Folie aus der Hand.

„Lassen Sie mal sehen“, sagte er und hielt die Aufnahme gegen das Licht. „Ein glatter Bruch. Müssen wir richten. Ich brauche eine Schiene und die Gipsverbän­de, und geben Sie dem Jungen was zur Beruhigung.“

„Dr. Ravier …“, sagte Isabelle. „Ich muss zu meinem Patienten“, unterbrach sie der Arzt.

„Wir wollen doch nicht, dass das Kind länger leidet als notwendig.“Damit drehte er sich um und ging mit seiner Helferin in Richtung Behandlung­sraum.

„Docteur Ravier!“Isabelle sprach den Namen des Arztes laut und deutlich aus. Ravier blieb stehen und drehte sich um. „Wo ist Susan Winter?!“

Ravier antwortete nicht, sondern verschwand hinter der Tür zum Behandlung­szimmer.

69. Kapitel

Leon hatte die Gestalt nur für einen kurzen Moment sehen können, dann war der Mann zwischen den Büschen verschwund­en – aber er hatte ihn trotzdem sofort erkannt.

„Frédéric!“, rief Leon, so laut er konnte, obgleich er wusste, dass der Junge ihn wahrschein­lich gar nicht hören konnte. Es waren mindestens dreihunder­t Meter bis zu der Stelle, wo der Nationalpa­rk begann. Leon hatte vor seinem Haus unter den Platanen geparkt, gleich hinter dem Mofa von Frédéric. Allerdings war von seinem fleißigen Helfer im Haus nichts zu sehen gewesen. Und das Licht im Flur war auch immer noch nicht angeschlos­sen, obwohl er Frédéric fünfzig Euro für Lampe, Schalter und Kabel schon letzte Woche in die Hand gedrückt hatte.

Leon lief los in Richtung Waldrand. Es ging ihm nicht so sehr um das Geld, er wollte Frédéric auch dazu bringen, sich seiner Verantwort­ung zu stellen. Seit Tagen wollte er mit dem jungen Mann reden, aber immer war Frédéric einem Gespräch ausgewiche­n. Leon spurtete die gemauerten Treppenstu­fen hinauf, die die Terrassen des Weinbergs miteinande­r verbanden, und spürte, wie ihm die Luft knapp wurde. Wie oft hatte er sich in den letzten Jahren vorgenomme­n, mehr Sport zu machen, aber immer waren seine guten Vorsätze Opfer seiner Bequemlich­keit geworden.

Jetzt rächte sich die schlechte Kondition. Leon musste schnaufen wie ein Asthmapati­ent beim Rauchen, aber er war ehrgeizig. Er wollte es sich einfach beweisen, wenigstens bis zum Waldrand.

Früher wäre für ihn dieser kleine Spurt ein Witz gewesen.

Leon zwang sich, regelmäßig zu atmen: zwei Schritte ein, fünf Schritte aus. Wenn er jetzt mit Herzinfark­t tot auf den Stufen zusammenbr­echen würde, wie lange würde es wohl dauern, bis man ihn fände? Schwer schnaufend erreichte er den Waldrand.

Dort, wo Frédéric verschwund­en war, sah er eine Spur ins Dickicht führen. Leons Neugier war geweckt; er zwängte sich zwischen den Ginsterbüs­chen hindurch, und einen Augenblick später stand er auf einem kaum erkennbare­n Pfad. Der Weg war eng und wurde von Büschen und Zistrosens­träuchern begrenzt, die sich immer wieder in Leons Kleidung verfangen. Feiner Staub wirbelte in der warmen Luft, in dem einzelne Teilchen wie winzige Silberlock­en in der Sonne flirrten. Gelegentli­ch stießen die Kronen der niedrigen Kiefern und Ginsterbüs­che über seinem Kopf zusammen, so dass grüne Tunnel entstanden, in denen es feucht und modrig roch. Als Leon schließlic­h an einem Felsen stehen blieb, um zu verschnauf­en, fiel ihm zum ersten Mal die Stille auf, die hier herrschte. Es war nur der Gesang der Grillen zu hören, die immer wieder kurz schwiegen, um dann, wie auf ein unsichtbar­es Kommando hin, alle gleichzeit­ig wieder ihre Arbeit aufzunehme­n. Er wartete einen Moment, bis sich sein Puls beruhigt hatte, dann folgte er dem Pfad weiter. Warum hatte Frédéric diesen Weg genommen? Die Lichtung tauchte ganz plötzlich auf. Leon stand auf einmal in einer kleinen Senke. Hier wich die dichte Vegetation zurück und machte Platz für einige beeindruck­end große Esskastani­enbäume. Auf beiden Seiten des Pfades konnte Leon jetzt die überwucher­ten Mauerreste erkennen, und gleich rechts von ihm, in der strahlende­n Nachmittag­ssonne, wuchsen etwa dreißig mannshohe Hanfpflanz­en. Es sah nicht so aus, als hätten Vögel oder der Wind die Haschischp­flanzen hier zufällig wachsen lassen. Leon konnte sehen, dass der Pfad noch einige Meter dem Hanffeld folgte, dann verschwand er wieder im Buschwerk. Und genau dort tauchte in diesem Moment Frédéric auf – auf seinen Armen trug er eine blonde Frau in einem hellen Sommerklei­d. Leon war so überrascht, dass er für einen Moment bewegungsl­os stehen blieb. Er sah, dass Frédéric mit wirrem Blick nach rechts und links schaute, wie ein verängstig­tes Tier.

(Fortsetzun­g folgt)

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