Wenn die Grenzen zwischen Liebe und Missbrauch verschwimmen
Mit „May December“ist Todd Haynes ein komplexer Film gelungen, der auf allen Ebenen überzeugt. Ein absolut sehenswertes Drama
Ein Sprichwort besagt: „Die Liebe kennt keine Grenzen.“Auch keine Altersgrenzen? Er ist Anfang 30, sie Mitte 50. Sie könnte seine Mutter sein, er ging mit ihrem ältesten Sohn zur Schule. Gracie (Julianne Moore) und Joe (Charles Melton) sind seit rund 20 Jahren ein Paar. Genau: Joe war nicht älter als 13 Jahre, als er und die damals verheiratete Gracie eine Liebschaft miteinander eingingen.
Sexueller und psychologischer Missbrauch? Das streiten Gracie und Joe bis heute ab – und das, obwohl Gracie zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden war. Sie brachte ihre erste gemeinsame Tochter im Gefängnis zur Welt. Nach ihrer Freilassung heirateten die beiden und bekamen zwei weitere Kinder.
Der Fall sorgte für jede Menge Aufregung und skandalöse Schlagzeilen. Selbst Jahre danach reden die Leute immer noch über Gracie und Joe, die als scheinbar glückliche Familie in Savannah leben. Doch kann Joe, der damals fast noch ein Kind war, überhaupt verstehen, was in Wirklichkeit mit ihm – und vor allem zwischen ihm und Gracie – passiert ist?
Und genau da setzt Todd Haynes’ packendes und äußerst beeindruckendes Drama „May December“an. Denn ausgerechnet die Schauspielerin Elizabeth Barry (Natalie Portman), die für eine Verfilmung dieser abstoßenden, wie auch außergewöhnlichen „Liebesgeschichte“in die Rolle der Gracie schlüpfen soll, sorgt dafür, dass Joe tatsächlich beginnt, seine Entscheidungen und seine Vergangenheit zu hinterfragen.
Tiefgründige Auslegung komplexer Persönlichkeiten
Die 36-jährige Elizabeth reist für ihre Recherchen zum Film nach Savannah, verbringt einige Wochen mit Gracie und Joe und spricht mit Verwandten, wie den Kindern aus Gracies erster Ehe, und Nachbarn. Sie möchte die beiden besser kennenlernen – sowohl als Paar als auch als Individuen – und ihre Beziehung zueinander verstehen. Elizabeth möchte sich schlichtweg in Gracie hineinversetzen können, um so eine möglichst authentische Performance für die Verfilmung abzuliefern. Dass sie Joe dadurch die Realität, sprich, den Missbrauch vor Augen führt, hätte sie wohl kaum gedacht.
Damit greift „May December“gleich zwei große Themen auf. Einerseits steht die Geschichte um Gracie und Joe im Vordergrund. Diese basiert sogar auf realen Fakten und spielt auf den Fall der US-amerikanischen Lehrerin Mary Kay LeTourneau an. Andererseits fokussiert sich der Film auf das Schauspielerdasein und darum, wie weit man gehen muss, um die perfekte Show zu liefern. Somit deuten Todd Haynes und die Drehbuchautoren Samy Burch und Alex Mechanik auf einer weiteren Ebene auf die Verfilmung aus dem Jahr 2000 an („All-American Girl: The Mary Kay LeTourneau Story“).
Entstanden ist daraus ein komplexes Werk mit drei besonders komplexen Hauptfiguren, deren Charakterzeichnung kaum tiefgründiger hätte sein können. Die Naivität von Gracie ist erschreckend und bewundernd zugleich. Schließlich behauptet sie, Joe habe sie damals verführt, und dass es echte Liebe sowie eine ganze besondere Verbindung sei, die die beiden zueinander hätten. Man möchte die 56-Jährige verabscheuen, kann es aber auch nicht so richtig. Verstehen tut man sie aber keinesfalls.
Viele Andeutungen, aber nicht oberflächlich
Im Laufe des Films wird dabei sehr schnell deutlich, wie unausgewogen das Machtverhältnis in der Beziehung zwischen Gracie und Joe ist. Während sie ihm beinahe mütterlich begegnet, wirkt er wie einer ihrer Söhne. Dass sie Joes Leben ruiniert hat, er so viele Erfahrungen in seiner Jugend nicht machen konnte, weil er viel zu schnell erwachsen werden musste und es doch nicht richtig ist, wird sowohl Schauspielerin Elizabeth als auch den Zuschauenden rasch bewusst.
„May December“überzeugt nicht nur inhaltlich auf ganzer Linie, sondern auch schauspielerisch. Natalie Portman gibt eine erstklassige, vom Perfektionismus und Ehrgeiz angetriebene Schauspielerin, die immer mehr zum Spiegelbild von Gracie wird. Julianne Moore dagegen brilliert als verbissene Ehefrau und Mutter, die Elizabeth absolut nicht abkann. Wie gekünstelt das freundliche Gehabe zwischen Elizabeth und Gracie tatsächlich ist, wird auch ohne Worte deutlich.
Dazu mischen sich gelungene Szenen, wie ein Monolog von Natalie Portman als Elizabeth. Frontal blickt sie in die Kamera, geschminkt wie Gracie und deren Mimik und Aussprache nachahmend, macht sie dem abwesenden Joe ein Liebesgeständnis – als Probe für die Verfilmung versteht sich.
Todd Haynes’ Drama, das mit wenigen komödienhaften Elementen auskommt, deutet vieles an, bleibt dennoch nicht an der Oberfläche verhaftet. „May December“sagt vieles im Unausgesprochenen. Das ist großes Kino.
Todd Haynes’ Drama deutet vieles an, bleibt dennoch nicht an der Oberfläche verhaftet.