„Wie offen Minister und Abgeordnete Fakten leugnen, ist bedenklich“
Der Piratepartei wird immer wieder vorgeworfen, kein klares Profil zu haben. Darüber und über den Stimmungswandel in der Chamber spricht Sven Clement
Die Fraktionsstärke hat sie nicht erreicht, aber einen Sitz hinzugewonnen. Welche Schwerpunkte die Piratepartei nun mit drei Abgeordneten – Sven Clement, Marc Goergen und Ben Polidori – setzt, wie sie mit der neuen Regierung und Opposition klarkommt und welche Ambitionen sie für die Europawahlen hat, hat das „Luxemburger Wort“im Vorfeld des Landeskongresses an diesem Samstag, dem 27. Januar, bei Sven Clement nachgefragt.
Sven Clement, inwiefern erleichtert ein zusätzlicher Abgeordneter die parlamentarische Arbeit?
Wir können an etwas mehr Hebeln ansetzen, also mehr Themen abdecken und die Arbeit besser planen und aufteilen. Zu zweit waren wir in der Hälfte der Kommissionen vertreten, jetzt sind es drei Viertel. Das bringt uns mehr Sichtbarkeit.
Ermöglicht es auch, mehr Schwerpunkte zu setzen?
Wir können jetzt überhaupt mal Schwerpunkte bei verschiedenen Themen definieren, wo wir vorher eher Beobachter waren.
Worauf will sich die Piratepartei also besonders fokussieren?
Das hängt letztlich von der politischen Aktualität ab, die wir nicht bestimmen. Für uns ist es wichtig, proaktiv, aber auch reaktiv zu sein, und als kleine Partei auch mal Nischen zu besetzen. Unser Kernanliegen bleibt die Bürgerbeteiligung und die Transparenz. Wir wollen eine Politik, in der auch die Menschen eine Stimme bekommen, die oft keine haben. Deshalb muss die Politik transparenter und bürgernäher werden. Genau das versuchen wir, ohne zu polemisieren und ohne Scheindebatten zu führen.
Wollen die Piraten denn jetzt ihr Profil schärfen? Im Superwahljahr wurde ja mehr als einmal kritisiert, dass man nicht wisse, wofür die Partei stehe.
Wer hat diese Vorwürfe denn erhoben? Meistens Parteien, die sich in einem RechtsLinks-Spektrum wohlfühlen und sich nur noch darüber streiten, wer nun linker oder rechter ist. Die gleiche Frage hätte man in den letzten zehn Jahren auch einer DP stellen können, die zudem nach den Wahlen eine 180-Grad-Wende in Sachen Profil vollzogen hat. Den Vorwurf, den man uns übrigens seit unserer Gründung macht, lasse ich wirklich nur bedingt gelten. Wir haben uns immer für mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz in allen Politikfeldern eingesetzt, wir lassen uns nur nicht klassisch rechts oder links verorten.
Anders gefragt: In welchen Bereichen wird sich die Piratepartei gezielt einbringen? Klimaschutz? Wohnungskrise? Digitalisierung?
Das sind alles konkrete Themen, die natürlich angegangen werden müssen. Bei der Digitalisierung brauchen wir keinen Schwerpunkt zu setzen, da sind wir sowieso die Einzigen, die glaubwürdig sind. Die Wohnungsnot muss ganz klar bekämpft werden. Dass beim Klimaschutz Handlungsbedarf besteht, ist mittlerweile auch allen bewusst. Da befinden wir uns in einem klassischen Wettkampf der Ideen.
Welche Ideen hat Ihre Partei in Bezug auf den Klimawandel?
Wir dürfen uns der Technologie nicht verschließen. Das heißt, wir müssen neben der Reduzierung der Emissionen auch technologisch alles tun, was machbar ist, um den Klimawandel rechtzeitig zu stoppen. Wir sagen sicher nicht, dass Klimaschutz niemanden stören darf. Wir sagen den Menschen auch nicht, was sie alles nicht tun dürfen. Man muss wirklich einen Weg finden, die Menschen mitzunehmen – nicht nur mit Panikmache, nicht nur mit Verboten, aber auch nicht, indem man ihnen sagt, sie können alles so weiter verschmutzen wie bisher.
Welche Krise muss zuerst angepackt werden?
Eigentlich können wir es uns nicht leisten, nicht an allem gleichzeitig zu arbeiten. Wir müssen massiv bauen. Wir würden viel für die Lebensqualität und die Kaufkraft der Menschen tun, wenn wir mehr bezahlbaren
Wohnraum zur Verfügung stellen würden. Diesen zu bauen, schafft Arbeitsplätze. Wir müssen klimafreundlich bauen, also auch näher am Arbeitsplatz. Was ich sagen will: Wir leben in einer Zeit der Polykrisen, und vieles hängt zusammen. Deshalb dürfen wir uns eben nicht auf eine Krise konzentrieren und riskieren, dass andere aus dem Ruder laufen. Wenn die Menschen im Überfluss leben, aber der Planet verbrennt, haben wir nichts erreicht. Und wenn die Menschen sich kein Essen mehr leisten können, aber der Planet gerettet ist, dann haben wir auch nichts erreicht.
Hat sich die Stimmung in der Chamber eigentlich durch die neuen Kräfteverhältnisse verändert?
Im Moment gibt es Reibereien. Das war zu erwarten. Ich habe schon am Wahlabend von einer Regierung der kalten Herzen gesprochen. Ich finde es bedenklich, wie offen Minister und Abgeordnete Fakten leugnen. Wenn beim Bettelverbot wortwörtlich steht, „toute mendicité est interdite“, dann kann man nicht sagen, es gehe nur um die aggressive. Das ist unehrlich und einer Chamber nicht würdig. Wenn das der neue Diskus
: Die Politik muss transparenter und bürgernäher werden. Genau das versuchen wir, ohne zu polemisieren und ohne Scheindebatten zu führen.
sionskurs ist, wenn intellektuell unehrlich argumentiert wird, wenn mit Halbwahrheiten und teilweisen Unwahrheiten agiert wird, dann stehen uns fünf bittere Jahre bevor. Auch hier ist Transparenz wichtig, damit solche Halbwahrheiten entkräftet werden. Also ja, das Klima im Parlament ist durch die neuen Kräfteverhältnisse etwas rauer geworden.
Marc Goergen hat in einem Interview kurz nach den Wahlen gesagt, es gebe eine gewisse Vertrauensbasis und auch Gemeinsamkeiten mit einer Reihe von CSV-Politikern. Würden Sie das heute noch so unterschreiben?
Das trifft zu, auch auf verschiedene Leute von der DP. Aber von der Vertrauensbasis bis zur Bereitschaft, auch mal zusammenzuarbeiten und sich einig zu sein, ist es ein weiter Weg. Im Moment habe ich noch ein wenig den Eindruck, dass sich die Majorität in einem post-elektoralen Koma befindet und noch nicht so recht weiß, was sie mit dieser neuen Macht anfangen soll.
Wie sieht es auf der anderen Seite mit der Opposition aus?
Es ist natürlich eine Herausforderung, mit Leuten, die man fünf Jahre lang sehr kritisch beäugt hat, die notwendige Vertrauensbasis zu schaffen, um in den nächsten Jahren konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aber ich sehe erste gute Signale. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, eine gemeinsame Front zu bilden, wenn es drauf ankommt – natürlich ohne den extrem rechten Teil der Opposition. Was sich Tom Weidig und Fred Keup in den letzten Wochen geleistet haben und dass sie keinerlei Einsicht erkennen lassen, zeigt doch, dass wir es hier fast schon mit staatszersetzenden Kräften zu tun haben.
Wie laufen die Vorbereitungen für die Europawahlen? Ist die Liste vollständig?
Ja, die Parteileitung wird sie beim Nationalkongress am Samstag vorlegen und darüber abstimmen lassen. Es ist eine ganz vielfältige Liste, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass wir Kandidaten, die gerade erst gewählt wurden, schon wieder auf das europäische Parkett abschieben möchten. Die Kandidatinnen und Kandidaten, die wir vorschlagen, wollen wirklich nach Brüssel oder Straßburg, um da für die Sache der Piraten einzutreten. Ich empfinde es als Betrug am Wähler, wenn man als Partei einfach alle Abgeordneten kandidieren lässt, die die Chamber dann vielleicht nach ein paar Monaten wieder verlassen, oder einfach nur um Stimmen zu sammeln.
Welche Ambitionen haben die Piraten für Europa?
Wir sind proeuropäisch, treten aber für eine realistische Europäische Union ein. Wir müssen die Kluft zwischen Brüssel und Straßburg und den Menschen verringern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Entscheidungen verständlich sind und dass wir keine absurden Entscheidungen treffen. Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass die EU nicht von rechtskonservativen Kräften gelenkt wird und Überwachungsfantasien, wie sie sich nicht einmal George Orwell vorstellen konnte, wahr werden. Das sind alles Gefahren, die im Moment bestehen. Und wir brauchen eine EU, die transparent agiert, die nicht Milliardenverträge mit Pharmakonzernen abschließt und diese dann nicht einmal den Abgeordneten zeigen will.
: Wenn intellektuell unehrlich argumentiert und mit Halbwahrheiten agiert wird, dann stehen uns fünf bittere Jahre bevor.