Vor 80 Jahren endete die Leningrader Blockade
Durch gezieltes Aushungern wollten die Nazis die sowjetische Millionenstadt auslöschen. Heute wird das Gedenken überschattet von Russlands Krieg gegen die Ukraine
Fast 900 Tage lang dauerte das Grauen von Leningrad: So lange riegelte die deutsche Wehrmacht die sowjetische Ostsee-Metropole, die heute St. Petersburg heißt, während des Zweiten Weltkriegs ab. Millionen Männer, Frauen und Kinder saßen in den Jahren 1941 bis 1944 in einer menschenverachtenden Falle. Das erklärte Ziel der Nationalsozialisten war die systematische Auslöschung der Stadt – neben Bombardierungen vor allem auch durch Hunger und Kälte. Am Ende kostete die Blockade Historikern zufolge rund 1,2 Millionen Menschen das Leben. An diesem Samstag (27. Januar) jährt sich das Ende der Belagerung zum 80. Mal.
„Die Leningrader Blockade mit deutlich über einer Million Todesopfern ist ein besonders erschütterndes und brutales Kriegsverbrechen inmitten des verbrecherischen Überfalls auf die Sowjetunion“, sagt der deutsche Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, bei einer Erinnerungsveranstaltung im Vorfeld des Jahrestags. „Die Blockade macht uns klar, zu welchen Untaten ideologisch verblendete und zu allem bereite Menschen in der Lage sind.“
Und tatsächlich sind das Leiden der Zivilbevölkerung und die generationsübergreifenden Traumata, die es hinterlassen hat, riesig. „Bei uns findet sich in jeder Familie irgendjemand, der unter dieser beispiellosen Tragödie gelitten hat“, sagt die russische Historikerin Milena Tretjakowa bei der Veranstaltung auch mit Schülerinnen und Schülern in der deutschen Botschafterresidenz in Moskau.
Tretjakowa liest Auszüge aus Tagebüchern von Zeitzeugen vor, die quälenden Hunger und klirrende Kälte schilderten. Die Wissenschaftlerin beschreibt, wie Menschen teils die Leichen ihrer verhungerten und erfrorenen Angehörigen versteckten,
um zumindest deren Essenskärtchen heimlich weiter nutzen zu können. Sie spricht über grassierende Krankheiten und Fälle von Kannibalismus unter den verzweifelten Bewohnern.
„In den Blockade-Tagebüchern gibt es ein bemerkenswertes Zeitgefühl, das verständlich macht, was das für eine Tragödie war“, sagt Tretjakowa. „Die Menschen beschreiben Zeit nicht in Monaten, Tagen und Daten, sondern sie schreiben etwa: „Mir bleiben noch drei Tage zu leben.“Weil sie verstanden haben, dass ihr Essen für drei Tage reicht.“Verschärft worden sei die katastrophale Lage noch dadurch, dass die sowjetische Führung unter Diktator Josef Stalin die Versorgung der Soldaten an der Front klar über die der Zivilbevölkerung Leningrads gestellt habe. „Die stalinsche Politik war sehr hart gegenüber den Menschen“, sagt Tretjakowa.
Der Experte Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau bezeichnete die Blockade als Völkermord der Nazis an der Leningrader Bevölkerung. Deutsche Dokumente aus den 1940er-Jahren belegen klar, dass es den Nationalsozialisten unter Diktator Adolf Hitler um ein gezieltes Aushungern ging. So stand etwa in einer geheimen Anweisung der Wehrmacht im September 1941: „Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung.“Heute gehört die frühere Zarenmetropole zum Weltkulturerbe der Unesco.
„Man sieht an den deutschen Quellen, dass man sich nicht herausreden kann mit ‚Wir haben nichts gewusst‘, sondern da wird ziemlich deutlich, wie planmäßig das Ganze geschehen ist“, betont Uhl. Die Nazi-Dokumente enthielten zudem Schilderungen über russische Zivilisten, die vor Schwäche einfach tot auf den Straßen zusammenbrachen und von Leichen, die in Hinterhöfen gestapelt wurden.
Lange Zeit sei das Ausmaß der Schuld in Deutschland von sich geschoben worden, sagt Uhl. Erst mit dem Ende der deutschen Teilung und einem Abgang der Kriegsgeneration habe ein Umdenken eingesetzt, erklärt der Historiker. Schließlich aber habe sich auch in der deutschen Gesellschaft die Einsicht verfestigt, „dass die Belagerungsstrategie der Wehrmacht gegenüber Leningrad zu den großen deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs gehört“. Uhl fügt hinzu: „Nach 80 Jahren hat die Leningrader Blockade damit endlich auch einen Platz in der deutschen Erinnerungskultur gefunden.“
Zugleich aber wird das Gedenken in diesem Jahr erneut überschattet vom Angriffskrieg, den Russland seit mittlerweile fast zwei Jahren gegen das Nachbarland Ukraine führt. Denn ein Kernthema der russischen Propaganda ist es, die ukrainische Staatsführung als angebliche „Neonazis“zu brandmarken und damit in eine Tradition mit den deutschen Faschisten zu stellen.
Darüber hinaus werden die aus russischer Sicht unzureichenden deutschen Entschädigungszahlungen für nichtjüdische Blockade-Überlebende von Moskau als vermeintlicher Beleg dafür angeführt, dass auch in Westeuropa der Nazismus wieder aufflamme. Die russische Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa etwa schimpfte in diesem Zusammenhang kürzlich sogar über angebliche „rassische Diskriminierung“.
Die Bundesregierung aber verweist darauf, dass die Entschädigung nichtjüdischer Opfer mit den Reparationen an die Sowjetunion unmittelbar nach dem Krieg geregelt wurde. Darüber hinaus wurde 2019 ein Hilfsprojekt für Blockade-Opfer beschlossen, welches trotz der aktuell höchst angespannten Beziehungen weiter fortgesetzt wird.
Auch der deutsche Botschafter Lambsdorff macht noch einmal deutlich, dass Deutschland sich seiner historischen Verantwortung für die vielen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bewusst sei: „Dieser Angriffskrieg Deutschlands war von vornherein ein großes Verbrechen, ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht, für den es keine Entschuldigung gibt“. Und der Diplomat betont: „Gelegentlich geäußerte Vermutungen, wir würden die Geschichte umschreiben und Verantwortung abgeben wollen, sind falsch.“dpa