„Das war sinnlose Gewalt, oder nicht?“
Im Oktober 2020 wird ein 36-Jähriger auf einer Tankstelle brutal von drei Männern angegriffen. Einer von ihnen zückt ein Messer und sticht zu
„Äddi a Merci“lautet der Schriftzug auf der Schiebetür, als diese sich kurz nach 1 Uhr hinter zwei Männern schließt. Augenblicke später sind durch die Fensterscheiben bei den Zapfsäulen der Tankstelle nahe der Kirche in Hollerich hektische Bewegungen und Gestalten zu erkennen. Bilder der Außenüberwachungskamera aus der Nacht zum 24. Oktober 2020 zeigen, wie drei junge Männer völlig enthemmt auf den 36-jährigen João (Name von der Redaktion geändert) losgehen.
Die Männer verschwinden aus dem Bild. Ein stark abbremsendes Auto lässt darauf schließen, dass die Schlägerei sich auf die Fahrbahn verlagert hat. Als sie wieder ins Sichtfeld der Kamera treten, scheint sich die Situation beruhigt zu haben. Nur wenige Sekunden später kommt es aber wieder zu Schlägen. Die Beteiligten zieht es in Richtung der Kirche.
Als João kurze Zeit später allein zur Tankstelle zurückkehrt, ist dieser schwer verletzt. Vier Messerstiche im Oberkörperbereich, ein Pneumothorax und eine gebrochene Rippe zählen zu Verletzungen, die eine Rechtsmedizinerin in ihrem Gutachten festhält. Die Blessuren seien wohl nicht lebensbedrohlich gewesen, die Gewalteinwirkungen hätten jedoch fatale Folgen haben können, sagt sie diese Woche vor Gericht.
Eric R. und Igor G. müssen sich wegen versuchten Totschlags vor einer Kriminalkammer verantworten. Der dritte Täter, der den Strafverfolgungsbehörden nur unter dem Namen „Ghost“bekannt ist, konnte im Zuge der Ermittlungen nicht identifiziert werden. Auch während des Prozesses geben die beiden jungen Angeklagten die Identität des Mannes nicht preis. „Die einzige Erklärung ist, dass die beiden Angst vor diesem Ghost haben. Sie wissen, warum sie seinen Namen verschweigen“, sagt die Vorsitzende Richterin gegen Ende des zweiten und letzten Verhandlungstags am Mittwoch.
Auslöser der Auseinandersetzung ist eine Nichtigkeit. Kamerabilder zeigen, wie das spätere Opfer mit Bierdosen an der Kasse steht, um zu bezahlen. Der damals 20-jährige Igor G. drängelt sich vor einen anderen Kunden, steht sichtlich ungeduldig hinter João und gibt ihm zu verstehen, er solle sich beeilen. Den während der Covid-Pandemie geltenden Mindestabstand von zwei Metern hält er nicht ein, was das spätere Opfer Igor G. mit einem leichten Stoß zu verstehen gibt.
Es entbrennt eine verbale Auseinandersetzung, ein Tankstellenangestellter und ein weiterer Kunde greifen schlichtend ein. João zahlt schließlich, die beiden Männer verlassen gleichzeitig den Laden. Als der 36-Jährige zu den Zapfsäulen geht, stürmen Eric R. und Ghost, die beide draußen auf ihren Begleiter Igor G. gewartet haben, von der Seite auf das Opfer zu. João geht sofort zu Boden.
Angeklagte suchen Schuld beim Opfer
„Das war sinnlose Gewalt, oder nicht?“, sagt der Geschädigte vor Gericht. Er sei nicht zur Tankstelle gegangen, um sich zu prügeln. Er habe eine Arbeit und zwei Kinder und mache so etwas nicht. Den genauen Tathergang kann der Mann nicht wiedergeben. Die Messerstiche habe er erst nach der Tat bemerkt. Im Krankenhaus wird bei ihm eine Blutalkoholkonzentration von 1,5 Promille festgestellt. Der Mann verlangt von den Angeklagten Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 Euro.
Die Angeklagten zeigen sich wenig einsichtig. Sie zeigen sich zwar reumütig, geben aber dem Opfer die Schuld an der Eskalation. Man habe sich eigentlich nur verteidigen wollen. Der 36-jährige João habe zuerst auf Igor G. eingeschlagen. Seine Freunde hätten ihm nur helfen wollen. Die Bilder der Überwachungskamera und die Aussage eines Tankstellenmitarbeiters nach der Tat stützen diese Schilderungen jedoch nicht.
Für die Messerstiche soll letztlich allein der damals 22-jährige Eric R. verantwortlich sein. Auch in diesem Zusammenhang gibt der Mann an, er habe sich nur gegen João verteidigen wollen. Allerdings habe er für den Angriff nur ein kleines Taschenmesser benutzt und verweist auf eine Verletzung an seinem Finger. „Sie werden uns noch leid tun“, entgegnet der Vorsitzende Richter spöttisch.
Zwölf Jahre Haft oder Sozialstunden?
Er wolle nicht auf Notwehr oder strafmildernde Provokation plädieren, sagt der Strafverteidiger von Eric R. zu Beginn seines Plädoyers. Die Reaktion seines Mandanten sei nicht verhältnismäßig gewesen. Als Anwalt müsse er vor Gericht glaubwürdig bleiben. Es folgt eine eigenwillige rechtliche Argumentation, die mehr als einmal starke Widerworte der Vorsitzenden Richterin provoziert.
Auch der Verteidiger sucht die Schuld beim Opfer. Dieses habe einen „großen Charakter“. Und ein solcher ziehe Ereignisse wie in der Nacht zum 24. Oktober 2020 eben auf sich. Sein Mandant habe den Mann aber nie töten wollen. Er sei nicht wegen versuchten Totschlags, sondern wegen Körperverletzung zu verurteilen. Sozialstunden seien eine angemessene Strafe.
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft fordert derweil eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen versuchten Totschlags gegen Eric R. Er sei zum Tatzeitpunkt noch jung gewesen. Vor Gericht habe er aber gezeigt, dass er sich der Schwere seiner Tat bis heute nicht bewusst sei. Stattdessen habe er nach Entschuldigungen für sein Verhalten gesucht. Für den Mitangeklagten Igor G. fordert die Anklägerin derweil eine Verurteilung wegen Körperverletzung zur Höchststrafe von zwei Jahren Haft. Es gebe keine Beweise, dass er geahnt habe, dass Eric R. sein Messer benutzen würde.
Die Anklägerin hebt gleich zu Beginn ihrer Strafanträge die außerordentliche Brutalität des Angriffs hervor: „Auf den Kamerabildern ist zu sehen, dass die Schläge auf João niederprasseln. Die Angeklagten sind so ungezügelt, dass sie ausrutschen und fast von den Autos überfahren werden.“
Derweil schiebt ebenfalls der Strafverteidiger von Igor G. dem Opfer eine Teilverantwortung für die Eskalation zu. Sein Mandant sei wegen Körperverletzung zu Sozialstunden zu verurteilen.
Das Urteil ergeht am 22. Februar.
Die Angeklagten zeigen sich zwar reumütig, geben aber dem Opfer die Schuld an der Eskalation.