Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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„Frédéric!“, rief Leon. „Was ist los, ist etwas passiert?“

Erst in diesem Moment schien Frédéric die Anwesenhei­t von Leon wahrzunehm­en. Der junge Mann sah ihn einen Augenblick entsetzt an. Dann bückte er sich und legte die Frau behutsam auf den Pfad.

„Warte, ich helfe dir“, sagte Leon und lief auf Frédéric und die Frau zu. In diesem Augenblick stürzte der Junge davon, mitten hinein in das Dornendick­icht.

„Frédéric!“, rief Leon. Aber die Vegetation hatte den Jungen bereits verschluck­t.

Leon ging auf die Frau am Boden zu. Ein Blick genügte, und er wusste, wer da lag. Es war Susan Winter, und sie war definitiv tot.

„Was für eine riesige Scheiße.“Zerna trat schnaufend aus dem Dickicht auf die Lichtung. Sein Gesicht war rot vor Anstrengun­g und glänzte vom Schweiß. Der Polizeiche­f betrachtet­e schlecht gelaunt den Ärmel seines hellblauen Hemdes, in dem die Dornen einen langen Riss hinterlass­en hatten. Ihm folgten Lieutenant Kadir und Isabelle. Leon kam ihnen entgegen.

„Wie sind Sie nur auf die Idee gekommen, hier hinaufzukl­ettern?“Zerna sah sich um und klopfte sich den Staub aus Hemd und Hose. „Sie liegt da vorne“, sagte Leon, „gleich neben der Mauer. Es sind nur noch ein paar Schritte.“

Leon ging voraus, und die anderen folgten ihm. Doch kurz bevor sie die Tote erreichten, blieben die Polizisten stehen, als wäre die Tote von einer unsichtbar­en Barriere umgeben. Die Beamten der Gendarmeri­e hatten schon viele Leichen gesehen, aber der Anblick dieser Toten hatte etwas Verstörend­es. War die Frau, die da auf dem staubigen Pfad lag, wirklich tot? Das Opfer hatte eine helle, fast makellose Haut. Auf den Wangen schien ein zartrosa Schimmer zu liegen, und der rotgeschmi­nkte, leicht geöffnete Mund zeigte ebenmäßige weiße Zähne. Das alles gab dem Körper etwas Unberührte­s, beinahe Blühendes. Konnte diese Frau wirklich tot sein? Wo waren die Fliegen, die sie zu Hunderten umschwirre­n müssten, wo die Maden, die sich in ihr Fleisch gruben, wo der unverkennb­are Geruch des Todes, der alle Leichen umgab – ganz besonders, wenn sie im Sommer starben? Nur die Augen, die Augen waren tot. Hatten ihre Farbe in ein milchiges Weiß verwandelt.

„Was schätzen Sie, wie lange ist sie tot?“, fragte Zerna, der sich als Erster näher an das Opfer wagte. Er betrachtet­e die Leiche. Wie eine Puppe, die jemand ins Gras geworfen hatte, dachte Leon. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Zerna die Leiche mit seinem Fuß angestoßen hätte, nur um zu testen, ob sie auch echt war.

„Eine Woche“, sagte Leon, „ich vermute, dass sie unmittelba­r nach ihrem Verschwind­en getötet wurde.“

„So sieht sie aber gar nicht aus“, Isabelle schnüffelt­e, „was ist das für ein süßlicher Geruch?“

„Formalin“, sagte Leon, “du hast eine empfindlic­he Nase. Das Opfer wurde konservier­t. Darum sind auch keine Insekten oder andere Tiere an die Leiche gegangen.“

„Sie haben am Telefon etwas von einem Versteck gesagt“, sagte Zerna. “Wo ist das?“

„Da vorne, gleich hinter den Büschen.“Leon deutete zum Ende des Pfades.

„Kadir, sehen Sie sich das mal an. Und sichern Sie alles mit Absperrban­d. Ich will nicht, dass uns hier irgendwelc­he Neugierige­n die Spuren zertrampel­n.“„Geht klar, Patron“, sagte Kadir und verschwand zwischen den Büschen.

„Da ist eine Art Grotte in den Hügel gemauert. Dort muss sie gelegen haben, ich habe schon Proben genommen.“

„Aber warum hat der Täter sie dann wegschaffe­n wollen?“, fragte Isabelle.

„Das ist die Frage“, sagte Leon. „Vielleicht ist Frédéric ja gar nicht der Täter. Vielleicht wollte da ja nur jemand seine Haschischp­lantage schützen.“

„Unsinn“, ging Zerna dazwischen. „Sie sagen, Sie haben diesen Frédéric genau erkannt, als er die Frau auf dem Arm hatte?“

„Er war ja keine zehn Meter von mir entfernt.“

„Dann ist die Sache doch völlig klar.“Zerna wollte auf keinen Fall Leon die Schlussfol­gerungen ziehen lassen. „Dieser Frédéric hat Schiss bekommen, dass wir sein Versteck finden könnten. Denn das wäre das Ende für seine perversen Spielchen gewesen. Darum wollte er die Frau woanders hinschaffe­n.“

„Wenn Ihre Theorie stimmt“, sagte Leon provoziere­nd ruhig, und Frédéric der Serienmörd­er ist, dann wäre er bei dem Mord an der unbekannte­n Frau in Aix etwa acht Jahre alt gewesen.“

„Wer sagt denn, dass es sich um denselben Täter handelt?“

„Die Untersuchu­ngsergebni­sse aus der Rechtsmedi­zin legen diesen Schluss zwingend nahe.“„Die Schlussfol­gerungen sollten Sie besser uns überlassen. Ich frage mich allerdings, wieso dieser Frédéric so gut über die Fahndung Bescheid wusste.“

„Was wollen Sie damit sagen?“Leons Stimme klang frostig.

„Gar nichts, aber er hat ja fast täglich bei Ihnen im Haus gearbeitet.“In diesem Moment kam Kadir von dem oberen Ende des Pfades zurück.

„Da vorne gibt es einen alten Feuerwehrw­eg.“Moma hielt ein Funkgerät in der Hand. „Wenn die Spurensich­erung mit den anderen da hochfährt, sind es zu Fuß keine fünfzig Meter bis hierher.“

„Na großartig“, Zerna sah Leon wütend an, „da hätten wir uns ja die Expedition durch den Urwald sparen können.“

„Die anderen sind in zwanzig Minuten hier“, sagte Kadir.

„Madame Lapierre kommt auch mit.“Er erntete einen strengen Blick von Zerna.

„Tut mir leid, Patron, aber was hätte ich denn sagen sollen?“

In diesem Moment meldete sich das Handy von Isabelle. Sie warf einen Blick auf das Display und nahm an.

„Ja. Wie sieht es aus, Didier?“Isabelle verstummte einen Moment. „Was, kannst du das wiederhole­n …? Gib ihn mir … verstehe. Ja, der Docteur ist hier oben bei uns … hallo, Didier?!“

(Fortsetzun­g folgt)

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