Wenn die Mafia einen ganzen Kontinent kapert
Ganz Lateinamerika wird von der Organisierten Kriminalität herausgefordert. Selbst früher immune Staaten wie Chile und Costa Rica sind mittlerweile betroffen
Seit den Zeiten Pablo Escobars in Kolumbien ist kein Land Lateinamerikas so sehr von der Organisierten Kriminalität herausgefordert worden wie derzeit in Ecuador. Vor allem mexikanische Mafias in Allianz mit knapp zwei Dutzend lokalen Banden destabilisieren den Andenstaat und die Regierung des jungen Präsidenten Daniel Noboa und lassen wissen: Wenn wir wollen, können wir die Regierung stürzen.
Sie erschießen Präsidentschaftskandidaten, entern TV-Sendungen, übernehmen Gefängnisse, terrorisieren und erpressen die Zivilbevölkerung. Und vor allem schmuggeln sie Tausende Tonnen Kokain nach Europa und in die USA. In Ecuador könne man sehen, wie ein eigentlich friedliches Land in wenigen Jahren zu einem Hotspot des Organisierten Verbrechens werden kann, sagt Experte Edgardo Buscaglia.
In den 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre terrorisierte der legendäre Boss des Medellín-Kartells, Pablo Escobar, ganz Kolumbien. Er ließ einen Präsidentschaftskandidaten ermorden, Minister töten, einen Chefredakteur exekutieren, Flugzeuge abstürzen. Und immer drohten Autobomben zu detonieren. Die Lage in Ecuador heute ist ähnlich. Nur sind die Gewaltsyndikate jetzt besser international vernetzt und noch kaltblütiger. In den vergangenen zwei Jahren sind immer mehr Länder Lateinamerikas in die Fänge der Kartelle geraten. Die Region ist inzwischen die gewalttätigste der Welt. Die Zahl der Tötungsdelikte pro Hunderttausend ist fünfmal höher als in Nordamerika und zehnmal höher als in Asien.
Kriminelle Banden breiten sich wie Lauffeuer aus
Längst sind es nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen wie Kolumbien und Mexiko. Auch in Ländern wie Chile und Costa Rica, die lange immun schienen, explodieren Gewalt und Schmuggel mit illegalen Gütern aller Art. Die Regierungen stehen meist hilf- und ideenlos vor diesem Phänomen. Gemeinhin fällt ihnen nur ein, das Militär auf die Straßen zu schicken. „Gewalt zerstört das Humankapital, beeinträchtigt den Arbeitsmarkt und schadet der Gesellschaft, indem sie die Produktivität verringert“, sagt der Vizepräsident für Lateinamerika bei der Weltbank, Carlos Felipe Jaramillo. Und die Gewalt, für die seit Anfang der 2000er-Jahre das Organisierte Verbrechen hauptverantwortlich ist, bremst das Wachstum und befeuert stattdessen die Migration.
In Ecuador konzentrieren sich wie unter einem Brennglas alle Komponenten, die eine starke Präsenz des Organisierten Verbrechens mit sich bringt: Der Staat verliert das Gewaltmonopol, Sicherheitskräfte und lokale Regierungen werden korrumpiert, die Mafias vernetzen sich international und sickern in legale Wirtschaftszweige ein. Möglich macht das ein toxischer Cocktail: die geografische Lage zwischen Kolumbien und Peru, den größten Produzenten von Kokablättern. Versäumnisse der Politik in der Kriminalitätsbekämpfung und - Prävention, ein schwacher Staat sowie ein großer Hafen und eine dollarisierte Wirtschaft, die das Waschen der Einkünfte aus dem illegalen Geschäft erheblich vereinfachen.
Mexiko ist heute das, was in den 1980-er und 1990-er Jahren Kolumbien war: das Zentrum der Rauschgiftkartelle und der Knotenpunkt, in dem fast alle Fäden des internationalen Drogenumschlags und anderer Verbrechen zusammenlaufen. Auch hier büßt der Staat mehr und mehr an Hoheit ein. Das „Kartell Jalisco Nueva Generación“(CJNG) und das „Sinaloa-Kartell“des früheren Capos Joaquín „El Chapo“Guzmán ringen blutig um Routen und Reviere für den Drogenschmuggel, aber auch für den Menschenhandel.
In den bisherigen fünf Jahren der Regierung des linksnationalistischen Staatschefs Andrés Manuel López Obrador wurden bereits 154.000 Menschen ermordet, so viel wie in keiner Amtszeit seiner Vorgänger. In manchen Bundesstaaten herrschen Zustände wie in Bürgerkriegen. Gleichzeitig aber ist Mexiko der neue Darling der Weltwirtschaft wegen seiner geografischen Lage und engen Verzahnung mit der US-Wirtschaft. Es existieren faktisch ein ökonomisch erfolgreiches Schwellenland und ein gekaperter Staat auf einem Territorium.
Wo der Staat keine Präsenz zeigt, übernimmt das Organisierte Verbrechen
In Kolumbien ist die Bilanz nicht weniger ernüchternd. Nach dem erfolgreichen Friedensprozess mit der Linksguerilla FARC 2016 ist das Land nur gewalttätiger geworden. Das territoriale Vakuum, das die Rebellen ließen, haben illegale Gruppen aller politischer Couleur und Drogenbanden gefüllt. In Kolumbien zeigt sich ein Kardinalfehler: Wo der Staat kaum oder keine Präsenz zeigt, übernimmt das Organisierte Verbrechen. Linkspräsident Gustavo Petro verfolgt den Ansatz, die Konsumentenländer stärker in die Verantwortung zu nehmen. So richtig diese Idee ist, so defizitär ist sie angesichts der Feuerkraft und ökonomischen Macht der Kartelle bei Gewinnspannen im Kokainhandel von bis zu 1.000 Prozent zwischen Produzenten und Endabnehmern.
Chile, das Land am Rande Südamerikas, das lange so sicher wie Europa galt, hat die lateinamerikanische Realität eingeholt. 2023 erreichte die Mordrate den Rekordwert von 6,7 pro 100.000 Einwohner. Das ist weit weniger als in den Nachbarländern, aber erheblich mehr als in Deutschland (0,25 im Jahre 2022). In Chile lebt eine halbe Million venezolanischer Migranten.
Darunter sind viele Mitglieder des „Tren de Aragua“. Die Gruppe steuert in ganz Südamerika den Menschenhandel. Chiles Häfen sind Ziel von Waffenschmugglern, auch im Holz- und Kupferhandel hält die Mafia die Hand auf. Die junge linke Regierung um Staatschef Gabriel Boric wirkt wie überrollt von der ausufernden Gewalt und kommt mit der Verschärfung der Gesetze kaum hinterher.
Angesichts dieses nahezu apokalyptischen Panoramas schauen Politiker und Bevölkerung in ganz Lateinamerika bisweilen neidisch auf das kleine El Salvador. In dem zentralamerikanischen Staat geht der rechte Hardlinerpräsident Nayib Bukele mit unerbittlicher Härte und Megagefängnissen gegen die Banden des Organisierten Ver
Gewalt zerstört das Humankapital, beeinträchtigt den Arbeitsmarkt und schadet der Gesellschaft, indem sie die Produktivität verringert. Carlos Felipe Jaramillo, Vizepräsident für Lateinamerika bei der Weltbank
brechens vor. In der Folge sanken Morde und Schutzgelderpressung. Die Bevölkerung dankt es Bukele im Februar aller Voraussicht nach mit der Wiederwahl, die eigentlich von der Verfassung verboten wird.
Aber in El Salvador, wie zunehmend überhaupt in der Region, sind viele Menschen der Meinung, dass der Verzicht auf Bürgerrechte, verbindliche Normen und Demokratie ein lohnender Preis für ein Leben in Sicherheit ist. So hat auch Ecuadors Staatschef Noboa versprochen, den Ansatz von Bukele zu übernehmen und schwimmende Gefängnisse im Pazifik zu bauen. Ganz so, als könne man die Gewalt einfach auslagern.