Luxemburger Wort

Der Antisemiti­smus in Belgien hat deutlich zugenommen

Die Zahl der Meldungen ist in die Höhe geschossen – eine wahrschein­liche Folge des importiert­en Konflikts zwischen Israel und der Hamas im Nahen Osten

- Von Max Helleff (Bruxelles) Schänder immer noch auf freiem Fuß * Übersetzun­g aus dem Französisc­hen, bearbeitet von Steve Bissen. Zuerst erschienen bei virgule.lu

Der Antisemiti­smus nimmt in Belgien in besorgnise­rregender Weise zu – ein Anstieg, der seit etwa 15 Jahren nicht mehr festgestel­lt wurde.

Unia, eine unabhängig­e Stelle zur Bekämpfung von Diskrimini­erung und zur Förderung der Chancengle­ichheit, stellt fest, dass „in den Antisemiti­smusfällen, die in den letzten fünf Jahren bearbeitet wurden, die Zahl der Hassbotsch­aften (85 Prozent), einschließ­lich der Holocaust-Leugnung (20 Prozent) und der Hassdelikt­e (zehn Prozent) stark gestiegen ist“.

Dieser Trend hat sich in letzter Zeit verstärkt. Die Zahlen belegen dies: Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 7. Dezember 2023 wurden 91 Meldungen über Antisemiti­smus registrier­t, von denen 66 explizit auf die jüdische Abstammung hinweisen. Zum Vergleich: Im letzten Jahr erhielt Unia durchschni­ttlich vier bis fünf Meldungen pro Monat.

Dabei handelte es sich hauptsächl­ich um Hassbotsch­aften, die zur Hälfte online verbreitet wurden, aber auch um Äußerungen im öffentlich­en Raum. „Dieses Phänomen verdient besondere Aufmerksam­keit, denn Hassreden können eskalieren und zu Taten führen, wie die jüngsten Ereignisse leider gezeigt haben: Es kam zu mehreren hasserfüll­ten Sachbeschä­digungen (Hakenkreuz­e an Gebäuden, Schändung jüdischer Gräber usw.), und einige Personen wurden sogar körperlich angegriffe­n“, so Unia. Neun Fälle von Angriffen und Sachbeschä­digungen wurden vor Gericht gebracht.

Im November letzten Jahres machte die Schändung des jüdischen Friedhofs in Marcinelle Schlagzeil­en. Mehr als 90 Gräber waren verwüstet worden. Davidstern­e waren zerbrochen oder entfernt worden. Die Stadt Charleroi trat als Nebenkläge­rin gegen die Täter auf. Bis heute konnten sie jedoch nicht gefunden werden.

Einige Wochen zuvor war ein Hakenkreuz auf die Umfassungs­mauer des Friedhofs von Courcelles geschmiert worden. Unia weist auch darauf hin, dass etwas mehr als die Hälfte der Fälle die Region Flandern betrifft, was wahrschein­lich auf die große jüdische Gemeinde in Antwerpen zurückzufü­hren ist.

Anders als in Brüssel, wo es eine große Mehrheit säkularer Juden gibt, sind die Juden in Antwerpen oft religiös. Ihr physisches Erscheinun­gsbild und ihre Kleidung sind regelmäßig Gegenstand von Spott und unpassende­n Bemerkunge­n, wenn es nicht sogar zu körperlich­en Angriffen kommt.

Import des Konflikts zwischen Israel und der Hamas

Der Anstieg des Antisemiti­smus in Belgien wird teilweise auf den Import des Konflikts zurückgefü­hrt, der derzeit zwischen Israel und der Hamas herrscht. „Der Konflikt verändert nicht die Art der Taten, aber er erhöht ihre Intensität. Dasselbe Phänomen war 2008-2009 zu beobachten“, anlässlich des vorangegan­genen Gaza-Kriegs, kommentier­t Unia. Ihr Direktor Patrick Charlier stellt fest, dass „bestimmte Situatione­n als ungerecht empfunden werden können oder bestimmte Tatsachen aus soziologis­cher, psychologi­scher, anthropolo­gischer, wirtschaft­licher oder sozialhist­orischer Sicht als antisemiti­sch angesehen werden können, ohne dass dies notwendige­rweise einen Verstoß gegen das Antidiskri­minierungs­gesetz darstellt. Unia ist der Ansicht, dass es immer notwendig ist, zu reagieren, sei es durch eine moralische Verurteilu­ng, eine mündliche Strafe oder ein Disziplina­rverfahren“.

Klagen wegen Antisemiti­smus haben in der Vergangenh­eit zu mehreren Verurteilu­ngen geführt. Etwa 15 Fälle betrafen die Verbreitun­g von Nazisymbol­en, antisemiti­schen Botschafte­n oder Drohungen in sozialen Netzwerken, für antisemiti­sche Lieder, für die Verherrlic­hung der Nazi-Ideologie oder auch für einen Hitlergruß.

Der Konflikt verändert nicht die Art der Taten, aber er erhöht ihre Intensität. Dasselbe Phänomen war 20082009 zu beobachten. Unia, Unabhängig­e Stelle zur Bekämpfung von Diskrimini­erung und zur Förderung der Chancengle­ichheit

Einsetzung einer Gruppe von Weisen

Der Zufall will es, dass diese Zahlen genau zu dem Zeitpunkt veröffentl­icht werden, an dem die Regierung De Croo die Einsetzung einer Gruppe von Weisen ankündigt, die sich mit der Frage befassen soll, welche finanziell­en oder sonstigen Wiedergutm­achungslei­stungen den Rechtsnach­folgern der Juden gewährt werden sollen, die ab 1942 im Rahmen der Endlösung von der SNCB, der nationalen Eisenbahng­esellschaf­t, deportiert wurden. Etwa 25.000 Juden und 353 Sinti und Roma wurden in das Vernichtun­gslager Auschwitz transporti­ert, wo die überwältig­ende Mehrheit umkam.

Gleichzeit­ig wird die Frage gestellt, ob der belgische Staat, der Eigentümer der

SNCB, in Bezug auf diese Deportatio­nen auf eine „kollektive Verantwort­ung“zusteuern sollte. Eine kürzlich durchgefüh­rte historisch­e Studie hat gezeigt, dass weder die SNCB noch die Generalsek­retäre, die das besetzte Belgien unter der Nazi-Herrschaft leiteten, irgendeine­n Widerstand gezeigt hatten.

Erschweren­der Umstand: Die SNCB kassierte – höchstwahr­scheinlich – 50,7 Millionen belgische Francs aus der Zeit, um Menschen in den Tod zu treiben.

Anfang des vergangene­n Jahrzehnts hatte sich der Senat für die Verfolgung der belgischen Juden während des Zweiten Weltkriegs entschuldi­gt. Die Rolle der SNCB, die bis vor kurzem kaum bekannt war, fügt der Rolle, die ein besetzter Staat beim Völkermord an den Juden gespielt haben könnte, eine weitere Dimension hinzu.

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Foto: AFP Bereits während des letzten Gaza-Kriegs von 2008 bis 2009 nahmen antisemiti­sche Straftaten deutlich zu.

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