Schwarzer Lavendel
„Ich mach dich fertig, con débile“, keuchte er.
Frédéric wehrte sich. Leon ging dazwischen und riss Frédéric zurück.
„Lassen Sie ihn los“, rief Leon. In diesem Moment mischte sich auch Isabelle ein.
„Aufhören, hör sofort auf damit!“Sie packte Masclau am Arm.
„Die Männer standen sich gegenüber, als wollten sie jeden Augenblick erneut übereinander herfallen.
„Geh schon nach oben“, sagte Isabelle zu Didier. „Wir sehen uns draußen bei den Fahrzeugen.“
Ohne ein Wort drehte sich Masclau um und verschwand.
„Danke“, sagte Isabelle zu Leon und griff nach Frédérics Arm, den der aber sofort zurückriss.
„Ich mach das schon. Ich bring ihn“, Leon sah Isabelle an. Sie nickte. „Komm, Frédéric, wir fahren zusammen zur Polizei.“
„Ich will nicht zur Polizei. Ich will hierbleiben.“
„Die wollen nur mit dir reden, na, komm schon“, sagte Leon und stieg mit Frédéric die Kellertreppe hinauf.
71. Kapitel
Zuletzt hatte sich Frédéric von Leon doch noch überzeugen lassen und war zu Isabelle ins Auto gestiegen und zur Polizei gefahren.
Nur mit Masclau konnte man Frédéric keinen Moment alleine lassen, ohne dass er zu schreien anfing.
Wie sich während der Befragung in der Gendarmerie herausstellen sollte, war Lieutenant Masclau mit gezogener Waffe in das Haus von Frédéric gestürmt und hatte dem geistig zurückgebliebenen Jungen gedroht, er würde seine Eidechsen töten, wenn er nicht sofort gestehen würde, dass er Susan Winter entführt und ermordet hatte.
Inzwischen war es 18 Uhr, und Leon war endlich dort, wo er sich am liebsten aufhielt: in der kühlen Ruhe des Autopsieraums der Klinik Saint-Sulpice. Nur gelegentlich wurde Leons Konzentration gestört, wenn sein Assistent Olivier Rybaud seinen MP3Player so laut aufdrehte, dass die Heavy-Metal-Beats aus den Kopfhörern bis zu Leon herüberdrangen. Sie einigten sich schließlich, dass Rybaud nur im Labor die Kopfhörer aufsetzen durfte. Im Autopsieraum blieb Musik tabu.
Die Tote, die da auf dem Tisch lag, faszinierte Leon. Es gab wahrscheinlich auf der ganzen Welt kein Dutzend Rechtsmediziner, die jemals eine frisch mumifizierte Leiche sezieren durften.
Der Anblick dieses scheinbar so perfekten Körpers hatte aber auch etwas Beklemmendes. Das war natürlich kein lebender Mensch, der da lag, aber es war irgendwie auch keine Leiche wie all die anderen, die Leon untersucht hatte. Als hätte sich das Opfer noch nicht entscheiden können, als wollte es sich einfach nicht von den Lebenden verabschieden, obwohl der Tod es längst erreicht hatte.
Diesmal war die Autopsie einfacher. Leon wusste von Anfang an, wonach er zu suchen hatte. Die Einstichstelle der Infusionszuleitung im rechten Unterarm war überdeutlich zu erkennen, und auch die beiden Einschnitte in den Oberschenkelarterien waren dort, wo Leon sie erwartet hatte. Der Täter hatte mehrmals angesetzt, bevor er das richtige Blutgefäß gefunden hatte. Die Schnittkante war glatt und gerade. Ein Skalpell, dachte Leon, oder ein sehr scharfes Messer.
Als Leon den übrigen Körper Quadratzentimeter für Quadratzentimeter untersuchte, wusste er, dass er nichts finden würde.
Es würde keine weiteren Verletzungen geben. Keine Stiche, keine Schnitte, keine Würgemale, nichts, das auf einen Mord hinwies.
Nein, diese Frau hatte ein ungleich grausamerer Tod ereilt.
Die Bestätigung für seine Vermutung fand Leon, als er zusammen mit Rybaud die Körperhöhle des Opfers öffnete und die Organe begutachtete. Das junge Herz musste regelmäßig geschlagen haben, bis die Vorkammern flimmerten und der Lebensmuskel unkontrolliert zu zucken anfing. Diese Lunge hatte geatmet, bis die Lungenbläschen nicht mehr von Blut umspült wurden.
Das Gehirn hatte gearbeitet, bis es vom Sauerstoff abgeschnitten wurde. Der ganze Körper hatte minutenlang verzweifelt gekämpft gegen das, was da plötzlich in seine Adern geströmt war und das Blut verdrängt hatte: Formalin. Es muss im Körper gebrannt haben wie Feuer, als das Gift durch die dicke Infusionsnadel in die Arterien lief und nach und nach die Organe versagten. Als das Blut, der Schwerkraft folgend, aus den geöffneten Beinarterien schoss und immer mehr Formalin durch den Infusionszugang nachlief. Bis sich das ganze System mit der ätzenden, zellenkonservierenden Chemikalie gefüllt hatte, aber da war die Frau längst tot. Wer immer das getan hatte, er wurde von einer unfassbaren Grausamkeit angetrieben, als er diesen Körper ausbluten ließ wie ein geschächtetes Tier.
Leon stand vor der toten Frau und betrachtete sie. Welcher Mensch würde einem anderen Menschen so etwas antun? Ihn so leiden lassen? War es eine Strafe oder das Auskosten uneingeschränkter Macht? An dieser Toten war alles anders als sonst. Es war kein Blut geflossen, als Leon den Körper geöffnet und die Organe entnommen hatte, stattdessen war eine klare Flüssigkeit ausgetreten, die einen schweren süßlichen Geruch im Autopsieraum verbreitete. Leon schaltete die Entlüftung ein. Ein leises Zischen war zu hören, als die Umwälzpumpen die Luft durch die kleinen Schlitze am Sektionstisch absaugten.
„Soll ich jetzt die Fotos machen?“, fragte Rybaud.
„Ja, ich brauche insbesondere Aufnahmen von allen Organen“, sagte Leon. „Wir müssen alles so genau wie möglich dokumentieren. Diese Aufnahmen werden demnächst in der forensischen Datenbank der Universität zu sehen sein.“
Als Leon zuletzt die Vagina des Opfers untersuchte, wusste er schon, was er finden würde. Diesmal war es eine Mauereidechse, ein männliches Tier.
Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, ISBN 9783-86493-216-8