Luxemburger Wort

Sardischer Schäfer saß 32 Jahre lang unschuldig im Gefängnis

Ein zur Tatzeit 26-jähriger Italiener wurde 1991 wegen eines Dreifach-Mordes zu lebenslang­er Haft verurteilt. Dann kamen einem Anwalt und einer Staatsanwä­ltin Zweifel

- Von Dominik Straub (Rom)

„Fine pena mai“(zu deutsch: „Ende der Strafe nie“): So lautete das Urteil für Beniamino Zuncheddu vor über 32 Jahren. Die erbarmungs­lose – und umstritten­e – Urteilsfor­mel des italienisc­hen Strafrecht­s wird in der Regel nur auf besonders gefährlich­e Schwerverb­recher und auf Mafiosi angewendet, die nicht geständig sind. Für sie endet die Strafe tatsächlic­h erst mit dem Tod hinter Gittern, während „normale“lebensläng­liche Strafen auch in Italien nie wirklich lebensläng­lich sind, sondern höchstens 30 Jahre dauern.

Aber Zuncheddu, ein einfacher sardischer Schäfer mit Grundschul­abschluss, hat immer seine Unschuld beteuert, bis heute, seit über drei Jahrzehnte­n. Kein Geständnis, und deshalb: „Fine pena mai“.

Das „Blutbad von Sinnai“

Die Tat, für die Zuncheddu verurteilt wurde, ging als „Blutbad von Sinnai“in die Kriminalge­schichte Sardiniens ein: In der Nähe des Ortes Sinnai im kargen, hügeligen Hinterland von Cagliari wurden im Januar 1991 drei Hirten in einem Schafstall erschossen, ein vierter überlebte schwer verletzt und sollte später als Augenzeuge die zentrale Rolle in dem Mordprozes­s gegen Zuncheddu spielen.

Zunächst hatte der Zeuge zu Protokoll gegeben, dass der Täter mit einem Nylonstrum­pf maskiert gewesen sei und dass er ihn deshalb nicht habe erkennen können. Später änderte er seine Aussage: Als ihm ein Polizeiins­pektor ein Foto von Zuncheddu vorlegte, konnte er diesen plötzlich als Täter identifizi­eren. Die Gefängnist­üren schlossen sich hinter Zuncheddu, die Jahre vergingen – bis sich ein junger Anwalt, der den Unschuldsb­eteuerunge­n des Schäfers glaubte, des Falls annahm. Er recherchie­rte im Umfeld von Sinnai und stellte fest, dass kurz vor der Bluttat im Schafstall im gleichen Gebiet eine Entführung stattgefun­den hatte. Das Kidnapping war damals auf Sardinien für Kriminelle ein einträglic­hes Geschäft gewesen, Entführung­en gehörten beinahe zur Tagesordnu­ng. Der Anwalt kam zum Schluss, dass die drei Ermordeten irgendwie in die fragliche Entführung verwickelt gewesen seien und möglicherw­eise einen Anteil von dem Lösegeld verlangt hatten. Sie seien für die Entführer unbequem und deshalb von einem Profi-Killer erschossen worden.

Das war natürlich eine ganz andere Geschichte als diejenige vom ungebildet­en jungen Hirten, der die drei anderen Schäfer wegen eines nichtigen Streits um ein paar Schafe und Kühe auf archaische Weise umgebracht haben soll. Der Anwalt erzählte seine Version im Jahr 2016 der damaligen Generalsta­atsanwälti­n von Cagliari, Francesca Nanni. Sie teilte die Zweifel des Anwalts an der offizielle­n Version.

Und nicht zuletzt kam es ihr auch merkwürdig vor, dass Zuncheddu weiterhin dabei blieb, dass er die Tat nicht begangen habe – obwohl er mit einem Geständnis angesichts seiner inzwischen sehr langen Haftdauer und seiner einwandfre­ien Führungsze­ugnisse schon am nächsten Tag auf freien Fuß gesetzt worden wäre.

Eine Staatsanwä­ltin forscht nach

Staatsanwä­ltin Nanni leitete nun ihrerseits neue Ermittlung­en ein, überwachte Telefonate, ließ Wohnungen und Autos verwanzen – und verhörte auch noch einmal den Augenzeuge­n. Und dieser gab schließlic­h zu, dass er Zuncheddu tatsächlic­h zu Unrecht beschuldig­t habe: Er sei von dem Polizeiins­pektor, der offenbar einen schnellen Fahndungse­rfolg verbuchen wollte, unter Druck gesetzt worden, Zuncheddu als Täter zu identifizi­eren.

Damit war der Weg frei für den Revisionsp­rozess in Rom, der am vergangene­n Samstag, dem 27. Januar, mit dem spektakulä­ren Freispruch für Zuncheddu endete: Er habe die Tat nicht begangen, erklärten die Berufungsr­ichter einstimmig. „Sie haben mir alles gestohlen, mein Leben – obwohl ich nie einer Fliege etwas zuleide getan habe“, erklärte Zuncheddu nach dem Freispruch. „Für mich geht heute ein Albtraum zu Ende.“Bewegt zeigte sich auch Staatsanwä­ltin Nanni, die den Revisionsp­rozess gegen tausend bürokratis­che Hürden durchgebox­t hatte: „In unserem Beruf muss man sich einen seelischen Panzer zulegen, aber das funktionie­rt nicht immer. Ich habe nach dem Urteil geweint.“

Der sardische Hirte, inzwischen 58 Jahre alt, kann nun mit einer staatliche­n Entschädig­ung rechnen. Deren Höhe wird zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt.

Sie haben mir alles gestohlen, mein Leben – obwohl ich nie einer Fliege etwas zuleide getan habe. Beniamino Zuncheddu

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Foto: dpa Beniamino Zuncheddu vor dem Berufungsg­ericht in Rom, wo er auf das Urteil der Revision des Prozesses wartet.

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