„Ich weigere mich, meine Existenz als Verbrechen zu betrachten“
Russland hat die LGBTIQ-Bewegung als extremistisch verboten, viele Aktivisten sind geflohen, Verbände arbeiten im Verborgenen. Wer dennoch bleibt, will lieber hoffen, als sich fürchten
Über dem vergitterten Portal prangen sehr knapp die Leuchtbuchstaben KLUB. Ein halbes Dutzend junger Leute steht plaudernd davor im Neuschnee. „Sind Sie allein?“, der Türsteher wendet sich mir zu, auch er ist jung, sein Blick kippt in Argwohn. Er lässt mich nicht rein. „Wir sind nicht verpflichtet, Gründe zu nennen.“„Ausländer dürfen auch nicht rein?“„Nein“, seine Stimme klingt unfroh. „Das ist ein Ort für Informelle.“
Nicht nur der „Mono-Club“am Pokrowsker Boulevard fürchtet jetzt fremde Gäste. Ein Großteil der russischen LGBTIQSzene igelt, vor allem der Teil, der sich für Privatleben und Spaß zuständig fühlt. Ende November hat das Oberste Gericht auf Antrag des Justizministeriums die „internationale gesellschaftliche Bewegung LGBTIQ“für extremistisch erklärt. Ein kafkaesker Spruch, schon weil diese Bewegung gar nicht existiert. Künftig aber ist LGBTIQ in Russland latenter Straftatbestand, für den bis zu zehn Jahre Gefängnis drohen. Schon sind hunderte LGBTIQ-Leute ausgereist, ganze Verbände und Medien. Insider rechnen damit, dass 90 Prozent der LGBTIQ-Organisationen schwinden.
„Aus dem öffentlich sichtbaren Leben wollen sie uns schon lange verdrängen“, sagt Leo Veles. „Und jetzt aus der Legalität.“Aber Leo behauptet sich. An der Kette über seinem schwarzen Rolli prangt ein silberner Totenkopfschwärmer, seine Fingernägel sind schwarzgrau lackiert, sein blauäugiger Blick ist fest bis kantig. „Ich bin der gehende Beweis dafür, dass das Leben komplizierter ist als die heterosexuellen Großfamilien, die von Vollmilchpackungen im Supermarkt grinsen.“Und als die der Staat seine Bürger sehe.
Ein Regenbogen über den Telegramkanal
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Leo, 33, gehört zu den bekanntesten Szenebloggern in Moskau, auf Tiktok hat er 23.000 Abonnenten, auch über seinem Telegramkanal Korobka 37 strahlt ein Regenbogen. „Ich weigere mich, meine Existenz als Verbrechen zu betrachten.“
Leo hat mich nach der Arbeit erwartet, im Foyer des 239-Meter Turms „Imperija“im Hochhausviertel Moskwa City. Er arbeitet dort, wo Moskau so ist, wie es gerne wäre, wo sich junge, ehrgeizige Menschen in Designerklamotten vor Hochgeschwindigkeitsliften drängen, die sie in schwindelerregend kreative Höhen schießen. Leo arbeitet im 15. Stockwerk, leitet die Fantasy-Abteilung eines Verlages. „Dort wissen alle Bescheid“, sagt er, „dort kann ich mir erlauben, ich selbst zu sein.“Drei Wolkenkratzer weiter, im Hauptquartier eines Chemie-Konzerns, erhielt ein homosexuelles Paar kürzlich ein Doppelzimmer, als man auf mehrtägigen Betriebsausflug ging. Moskau ist erstaunlich LGBTIQ-friendly. Außer den Schwulen-Discos, wo auch viele junge Frauen tanzen gehen, gibt es eine Menge Cafés und Bars, in denen Queer-Leute gar nicht auffallen, weil der Rest der jungen Menschen sich genauso adrett-freakisch stylt.
Die Kulturfabriken hinter dem Kursker Bahnhof sind aparter restauriert als am Prenzlauer Berg, Möbel- oder Lampenläden heißen „Deephouse“oder „Delight“, die Stiftung AIDS-Center verbirgt sich in einem Hinterhof. Mangels Geld habe man die Arbeit für mehrere Wochen eingestellt, erzählt Wanja, (Name geändert), einer der Aktivisten, der sich mit einem Halbtagsjob als Kellner finanziert. Aber man wolle weitermachen. „Wir kommen dem Staat ja nicht in die Quere.“
Aids-Hilfsgruppen funktionieren noch
Auch andere Aids-Hilfsgruppen funktionieren noch, zu ihren Stammkunden gehören außer Schwulen auch Drogensüchtige, Prostituierte und HIV-positive Durchschnittsrussen. Jetzt veranstalte man rückwirkend Selbstzensur, lösche eine Menge regenbogenträchtiger Label und Inhalte, was die eigentliche Arbeit enorm behindere, erzählt die lesbische Leiterin einer HIVStiftung. „Aber eine Menge Leuten sieht, dass wir bleiben, und fühlt sich besser.“
„Vor dem Krieg küsste ich mich manchmal mit Jungs in der Öffentlichkeit“, sagt Wanja, 28, „oder wir hielten Händchen.“Das war schon damals eine Mutprobe, jetzt verzichtet Wanja ganz darauf. Er hat sich Pfefferspray gekauft. Wanjas Frisur ist wirr, sein T-Shirt zwei Nummern zu groß, er redet über modernen russischen Rock und darüber, dass auch die Inhaber der MonoBar diverse oppositionelle Musikanten auf die Stoppliste gesetzt hätten. Es gäbe eine Menge schwuler Putinisten.
Die Monobar gehörte zu den drei Moskauer Klubs, wo am Wochenende nach dem Extremismus-Entscheid Polizei-Rollkommandos auftauchten, in Petersburg kündigten die Vermieter der größten Gay-Disco fristlos. Eine Woche später stürmte die Polizei auch einen Jekaterinburger Klub. „Sie haben die Gäste an die Wand gestellt, ihre Pässe fotografiert“, sagt Leo über die Razzien in Moskau. „Sie wollten eine Liste ihrer Namen und Adressen.“Für die Ermittler sei es viel bequemer, aus den Personen auf so einer Liste LGBTIQ-Extremisten zu machen, als nach echten Terroristen zu fahnden. Und das Verbot der russischen LGBTIQ sei auch ein Signal an alle möglichen Schlägertrupps: Auf die dürft ihr draufhauen!
Routinemäßige Polizei-Razzien
Noch sind keine Gewalttaten bekannt geworden, bis auf die Polizei-Razzien, manche Queer-Leute sagen, solche Razzien führten die Sicherheitsorgane routinemäßig durch, um mehr Schutzgeld von den Besitzern zu kassieren. „Wir können nur hoffen, dass sie ein paar Schauprozesse gegen bekannte Aktivisten veranstalten, die sowieso schon im Ausland leben. Und alle übrigen vergessen“, sagt Alexander Woronow, Leiter der Petersburger Rechtsschutz- und Beratungsgruppe Wychod. Wychod ist komplett emigriert und hilft jetzt als comingoutspb.com online, jenseits der VPN.
Die Gebliebenen wollen sowieso lieber hoffen, als sich fürchten, Wanja möchte das Abitur nachmachen, um in Moskau Medizin zu studieren, wie Mark, sein Freund.
Auch Chris will nicht weg, sie kann es auch gar nicht. Chris hat es gerade noch geschafft, Geburtsurkunde und Personalausweis auf ihr neues Geschlecht umzuschreiben. Sie hat keinen Reisepass, kein Geld und keine Kontakte für einen Neustart in einem fremden Land. „Und meine Angstzustände nähme ich überallhin mit.“
Chris ist 22, ihre Kinderstirn faltenfrei, auf ihrem Kinn schimmern blonde Härchen, sie habe keine Lust zum Rasieren gehabt, lächelt sie uneitel. Ihre Hormontherapie ist in vollem Gange.
Transgender, oder „Transformer“, wie Wladimir Putin witzelt, haben in Russland
Aus dem öffentlich sichtbaren Leben wollen sie uns schon lange verdrängen. Und jetzt aus der Legalität. Leo Veles, Szeneblogger in Moskau
allen Grund zu Angstzuständen, seit der Staat im Juli sämtliche Operationen und Therapien zur Umwandlung des Geschlechts verboten hat, auch entsprechende Änderungen der standesamtlichen Daten. Noch könne man die Hormonpräparate in der Apotheke kaufen, sagt Chris, aber Injektionen nur noch auf dem Schwarzmarkt.
Freie Hand für Sicherheitsorgane
Chris hat Psychologie studiert, aber sie arbeitet als Verkäuferin in einem Kosmetikmarkt im Moskauer Bezirk Mitino. Und Chris ist Aktivistin einer Selbsthilfegruppe für Queer-Leute mit psychischen Problemen. Die Sicherheitsorgane hätten jetzt freie Hand, die ganze Gruppe einzusperren, alle seien deprimiert, aber man richte sich aneinander auf. „Glück ist jetzt Glück trotzdem.“
Angst ist längst Alltag. Im März wurde Chris bei einer Comic-Präsentation der nun zu sieben Jahren Haft verurteilten Künstlerin Sascha Skolitschenko festgenommen, ein Polizist, dem Chris´ Gesicht nicht gefiel, schlug ihr in den Magen, drohte, sie mit einer Hantel zu vergewaltigen.
Chris leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Wanja auch: Mitschüler in seinem ostsibirischen Heimatdorf schlugen ihn schon regelmäßig als „Schwuchtel“zusammen, bevor er selbst begriff, was mit ihm los war.
Leo geriet 2014 in eine von homophoben Kriminellen als Date getarnte Falle: „Sie haben mich ausgeraubt und fast zu Tode geprügelt.“Der Blogger kriegt seit Jahren Drohungen, auch Morddrohungen, man werde ihn klein hacken und die Stücke an seine Familie schicken. Bei Blickkontakt auf dem Weg von der U-Bahn nach Hause wisse er nie, ob der andere kein Messer zückt. „Aber irgendwann wird die Psyche müde, sich zu fürchten.“
Wanja und Mark lassen sich draußen im Hof der Kulturfabrik fotografieren, aus Sicherheitsgründen von hinten. Sie stellen sich in den langen Daunenjacken, die sie über ihre T-Shirts gezogen haben, ins Schneetreiben, Mark legt seinen Kopf an Wanjas Schulter. Ein Passant, auch ein junger Mann in Daunenjacke, wirft einen Seitenblick auf das zärtliche Paar, geht schnell weiter. Noch weiß Moskau nicht viel mit seiner neuen Unduldsamkeit anzufangen.