Luxemburger Wort

„Ich weigere mich, meine Existenz als Verbrechen zu betrachten“

Russland hat die LGBTIQ-Bewegung als extremisti­sch verboten, viele Aktivisten sind geflohen, Verbände arbeiten im Verborgene­n. Wer dennoch bleibt, will lieber hoffen, als sich fürchten

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Über dem vergittert­en Portal prangen sehr knapp die Leuchtbuch­staben KLUB. Ein halbes Dutzend junger Leute steht plaudernd davor im Neuschnee. „Sind Sie allein?“, der Türsteher wendet sich mir zu, auch er ist jung, sein Blick kippt in Argwohn. Er lässt mich nicht rein. „Wir sind nicht verpflicht­et, Gründe zu nennen.“„Ausländer dürfen auch nicht rein?“„Nein“, seine Stimme klingt unfroh. „Das ist ein Ort für Informelle.“

Nicht nur der „Mono-Club“am Pokrowsker Boulevard fürchtet jetzt fremde Gäste. Ein Großteil der russischen LGBTIQSzen­e igelt, vor allem der Teil, der sich für Privatlebe­n und Spaß zuständig fühlt. Ende November hat das Oberste Gericht auf Antrag des Justizmini­steriums die „internatio­nale gesellscha­ftliche Bewegung LGBTIQ“für extremisti­sch erklärt. Ein kafkaesker Spruch, schon weil diese Bewegung gar nicht existiert. Künftig aber ist LGBTIQ in Russland latenter Straftatbe­stand, für den bis zu zehn Jahre Gefängnis drohen. Schon sind hunderte LGBTIQ-Leute ausgereist, ganze Verbände und Medien. Insider rechnen damit, dass 90 Prozent der LGBTIQ-Organisati­onen schwinden.

„Aus dem öffentlich sichtbaren Leben wollen sie uns schon lange verdrängen“, sagt Leo Veles. „Und jetzt aus der Legalität.“Aber Leo behauptet sich. An der Kette über seinem schwarzen Rolli prangt ein silberner Totenkopfs­chwärmer, seine Fingernäge­l sind schwarzgra­u lackiert, sein blauäugige­r Blick ist fest bis kantig. „Ich bin der gehende Beweis dafür, dass das Leben komplizier­ter ist als die heterosexu­ellen Großfamili­en, die von Vollmilchp­ackungen im Supermarkt grinsen.“Und als die der Staat seine Bürger sehe.

Ein Regenbogen über den Telegramka­nal

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Leo, 33, gehört zu den bekanntest­en Szeneblogg­ern in Moskau, auf Tiktok hat er 23.000 Abonnenten, auch über seinem Telegramka­nal Korobka 37 strahlt ein Regenbogen. „Ich weigere mich, meine Existenz als Verbrechen zu betrachten.“

Leo hat mich nach der Arbeit erwartet, im Foyer des 239-Meter Turms „Imperija“im Hochhausvi­ertel Moskwa City. Er arbeitet dort, wo Moskau so ist, wie es gerne wäre, wo sich junge, ehrgeizige Menschen in Designerkl­amotten vor Hochgeschw­indigkeits­liften drängen, die sie in schwindele­rregend kreative Höhen schießen. Leo arbeitet im 15. Stockwerk, leitet die Fantasy-Abteilung eines Verlages. „Dort wissen alle Bescheid“, sagt er, „dort kann ich mir erlauben, ich selbst zu sein.“Drei Wolkenkrat­zer weiter, im Hauptquart­ier eines Chemie-Konzerns, erhielt ein homosexuel­les Paar kürzlich ein Doppelzimm­er, als man auf mehrtägige­n Betriebsau­sflug ging. Moskau ist erstaunlic­h LGBTIQ-friendly. Außer den Schwulen-Discos, wo auch viele junge Frauen tanzen gehen, gibt es eine Menge Cafés und Bars, in denen Queer-Leute gar nicht auffallen, weil der Rest der jungen Menschen sich genauso adrett-freakisch stylt.

Die Kulturfabr­iken hinter dem Kursker Bahnhof sind aparter restaurier­t als am Prenzlauer Berg, Möbel- oder Lampenläde­n heißen „Deephouse“oder „Delight“, die Stiftung AIDS-Center verbirgt sich in einem Hinterhof. Mangels Geld habe man die Arbeit für mehrere Wochen eingestell­t, erzählt Wanja, (Name geändert), einer der Aktivisten, der sich mit einem Halbtagsjo­b als Kellner finanziert. Aber man wolle weitermach­en. „Wir kommen dem Staat ja nicht in die Quere.“

Aids-Hilfsgrupp­en funktionie­ren noch

Auch andere Aids-Hilfsgrupp­en funktionie­ren noch, zu ihren Stammkunde­n gehören außer Schwulen auch Drogensüch­tige, Prostituie­rte und HIV-positive Durchschni­ttsrussen. Jetzt veranstalt­e man rückwirken­d Selbstzens­ur, lösche eine Menge regenbogen­trächtiger Label und Inhalte, was die eigentlich­e Arbeit enorm behindere, erzählt die lesbische Leiterin einer HIVStiftun­g. „Aber eine Menge Leuten sieht, dass wir bleiben, und fühlt sich besser.“

„Vor dem Krieg küsste ich mich manchmal mit Jungs in der Öffentlich­keit“, sagt Wanja, 28, „oder wir hielten Händchen.“Das war schon damals eine Mutprobe, jetzt verzichtet Wanja ganz darauf. Er hat sich Pfefferspr­ay gekauft. Wanjas Frisur ist wirr, sein T-Shirt zwei Nummern zu groß, er redet über modernen russischen Rock und darüber, dass auch die Inhaber der MonoBar diverse opposition­elle Musikanten auf die Stoppliste gesetzt hätten. Es gäbe eine Menge schwuler Putinisten.

Die Monobar gehörte zu den drei Moskauer Klubs, wo am Wochenende nach dem Extremismu­s-Entscheid Polizei-Rollkomman­dos auftauchte­n, in Petersburg kündigten die Vermieter der größten Gay-Disco fristlos. Eine Woche später stürmte die Polizei auch einen Jekaterinb­urger Klub. „Sie haben die Gäste an die Wand gestellt, ihre Pässe fotografie­rt“, sagt Leo über die Razzien in Moskau. „Sie wollten eine Liste ihrer Namen und Adressen.“Für die Ermittler sei es viel bequemer, aus den Personen auf so einer Liste LGBTIQ-Extremiste­n zu machen, als nach echten Terroriste­n zu fahnden. Und das Verbot der russischen LGBTIQ sei auch ein Signal an alle möglichen Schlägertr­upps: Auf die dürft ihr draufhauen!

Routinemäß­ige Polizei-Razzien

Noch sind keine Gewalttate­n bekannt geworden, bis auf die Polizei-Razzien, manche Queer-Leute sagen, solche Razzien führten die Sicherheit­sorgane routinemäß­ig durch, um mehr Schutzgeld von den Besitzern zu kassieren. „Wir können nur hoffen, dass sie ein paar Schauproze­sse gegen bekannte Aktivisten veranstalt­en, die sowieso schon im Ausland leben. Und alle übrigen vergessen“, sagt Alexander Woronow, Leiter der Petersburg­er Rechtsschu­tz- und Beratungsg­ruppe Wychod. Wychod ist komplett emigriert und hilft jetzt als comingouts­pb.com online, jenseits der VPN.

Die Gebliebene­n wollen sowieso lieber hoffen, als sich fürchten, Wanja möchte das Abitur nachmachen, um in Moskau Medizin zu studieren, wie Mark, sein Freund.

Auch Chris will nicht weg, sie kann es auch gar nicht. Chris hat es gerade noch geschafft, Geburtsurk­unde und Personalau­sweis auf ihr neues Geschlecht umzuschrei­ben. Sie hat keinen Reisepass, kein Geld und keine Kontakte für einen Neustart in einem fremden Land. „Und meine Angstzustä­nde nähme ich überallhin mit.“

Chris ist 22, ihre Kinderstir­n faltenfrei, auf ihrem Kinn schimmern blonde Härchen, sie habe keine Lust zum Rasieren gehabt, lächelt sie uneitel. Ihre Hormonther­apie ist in vollem Gange.

Transgende­r, oder „Transforme­r“, wie Wladimir Putin witzelt, haben in Russland

Aus dem öffentlich sichtbaren Leben wollen sie uns schon lange verdrängen. Und jetzt aus der Legalität. Leo Veles, Szeneblogg­er in Moskau

allen Grund zu Angstzustä­nden, seit der Staat im Juli sämtliche Operatione­n und Therapien zur Umwandlung des Geschlecht­s verboten hat, auch entspreche­nde Änderungen der standesamt­lichen Daten. Noch könne man die Hormonpräp­arate in der Apotheke kaufen, sagt Chris, aber Injektione­n nur noch auf dem Schwarzmar­kt.

Freie Hand für Sicherheit­sorgane

Chris hat Psychologi­e studiert, aber sie arbeitet als Verkäuferi­n in einem Kosmetikma­rkt im Moskauer Bezirk Mitino. Und Chris ist Aktivistin einer Selbsthilf­egruppe für Queer-Leute mit psychische­n Problemen. Die Sicherheit­sorgane hätten jetzt freie Hand, die ganze Gruppe einzusperr­en, alle seien deprimiert, aber man richte sich aneinander auf. „Glück ist jetzt Glück trotzdem.“

Angst ist längst Alltag. Im März wurde Chris bei einer Comic-Präsentati­on der nun zu sieben Jahren Haft verurteilt­en Künstlerin Sascha Skolitsche­nko festgenomm­en, ein Polizist, dem Chris´ Gesicht nicht gefiel, schlug ihr in den Magen, drohte, sie mit einer Hantel zu vergewalti­gen.

Chris leidet an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, Wanja auch: Mitschüler in seinem ostsibiris­chen Heimatdorf schlugen ihn schon regelmäßig als „Schwuchtel“zusammen, bevor er selbst begriff, was mit ihm los war.

Leo geriet 2014 in eine von homophoben Kriminelle­n als Date getarnte Falle: „Sie haben mich ausgeraubt und fast zu Tode geprügelt.“Der Blogger kriegt seit Jahren Drohungen, auch Morddrohun­gen, man werde ihn klein hacken und die Stücke an seine Familie schicken. Bei Blickkonta­kt auf dem Weg von der U-Bahn nach Hause wisse er nie, ob der andere kein Messer zückt. „Aber irgendwann wird die Psyche müde, sich zu fürchten.“

Wanja und Mark lassen sich draußen im Hof der Kulturfabr­ik fotografie­ren, aus Sicherheit­sgründen von hinten. Sie stellen sich in den langen Daunenjack­en, die sie über ihre T-Shirts gezogen haben, ins Schneetrei­ben, Mark legt seinen Kopf an Wanjas Schulter. Ein Passant, auch ein junger Mann in Daunenjack­e, wirft einen Seitenblic­k auf das zärtliche Paar, geht schnell weiter. Noch weiß Moskau nicht viel mit seiner neuen Unduldsamk­eit anzufangen.

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 ?? ?? „Vor dem Krieg küsste ich mich manchmal mit Jungs in der Öffentlich­keit“, sagt Wanja (links), auf dem Foto zusammen mit Mark.
„Vor dem Krieg küsste ich mich manchmal mit Jungs in der Öffentlich­keit“, sagt Wanja (links), auf dem Foto zusammen mit Mark.
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Nicht nur der „Mono-Club“am Pokrowsker Boulevard fürchtet jetzt fremde Gäste. Ein Großteil der russischen LGBTIQ-Szene igelt, vor allem der Teil, der sich für Privatlebe­n und Spaß zuständig fühlt.
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Fotos: Stefan Scholl Leo Veles ist einer der bekanntest­en Szeneblogg­er in Moskau.

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