Schwarzer Lavendel
Eigentlich hätte Leon zufrieden sein können. Die Dinge hatten sich genau so entwickelt, wie er sie vorausgesehen hatte. Aber da war etwas, das ihn irritierte, ihm das Gefühl gab, etwas übersehen zu haben. Es war, wie wenn er morgens eilig aufbrach und wusste, dass er etwas vergessen hatte. Aber es wollte ihm partout nicht einfallen, was es war …
72. Kapitel
„Zerna behauptet, dass Frédéric die Morde sehr wohl begangen haben könnte.“Isabelle hatte eine kleine eiserne Pfanne auf den Gasherd geschoben.
„Du weißt, dass das Quatsch ist“, sagte Leon, der eine Flasche L’Angueiroun geöffnet hatte und die Köchin mit einem Glas Rosé versorgte. Isabelle hatte am Nachmittag angeboten, einen Couscous zu machen, wenn es auf der Wache nicht zu spät würde. Darauf hin war Leon an seinem Lieblingsfachgeschäft vorbeigefahren, das den schönen Namen trug: Aux Délices de la Marée – Die Wonnen der Gezeiten. Dort hatte er sechs prächtige Garnelen gekauft.
„Frédéric hat alles gestanden, was sie ihm vorgeworfen haben“, sagte Isabelle und legte die Garnelen mit der Marinade in die
Pfanne. Sofort erfüllte der Duft von Knoblauch und heißem Olivenöl den Raum.
„Du weißt doch, wie Frédéric ist“, sagte Leon.
„Der würde auch zugeben, dass er Napoleon ermordet hat, wenn du ihm lange genug zusetzt.“
„Am Ende hat er nur noch dagesessen und geweint. Hat Moma erzählt.“Isabelle schaukelte die gusseiserne Pfanne auf der Herdflamme hin und her und drehte die Garnelen mit der Zange. „Ich habe Zerna gleich gesagt, dass Frédéric Unsinn erzählt“, sie machte eine kurze Pause. „Er hat mich rausgeschickt und das Verhör zusammen mit Masclau fortgesetzt.“
„Ausgerechnet Masclau. Wo ist Frédéric jetzt?“
„In der Psychiatrie in Hyères. Geschlossene Abteilung. Auf Anweisung des Untersuchungsrichters.“
„Das hat der arme Kerl wirklich nicht verdient.“
„Frédéric hat das Opfer immerhin weggetragen“, sagte Isabelle.
„Das hast du uns selber erzählt.“Aber ich hab auch gesagt, dass er meiner Meinung nach nichts mit dem Mord zu tun hat.“
„Die Hanfpflanzen hat er angebaut. Das hat er als Erstes gestanden.“
„Wer ein paar Hanfstauden anpflanzt, ist noch lange kein Serienkiller.“
„Du weißt, wie sie bei der Gendarmerie darüber denken.“
„Sie hätten Frédéric nach Hause schicken sollen.“
„Solange er unter Mordverdacht steht …?“Diesmal klang Isabelle vorwurfsvoll, als wollte sie die Kollegen in Schutz nehmen. „Immerhin hat er ein Terrarium mit Eidechsen.“
„Frédéric ist gar nicht in der Lage, ein solches Verbrechen zu begehen.“Leon begann, Teller auf den Tisch zu stellen. „Da musst du präzise planen, dich in Chemie auskennen und in der Anatomie.“
„Kannst du mal den Curry rüber geben?“, bat Isabelle. Leon reichte ihr das Schälchen mit dem goldgelben Gewürz.
„Frédéric hat nicht mal einen Führerschein. Wie hätte er sein Opfer auf den Hügel bringen sollen?“, fragte Leon.
„Jeder Junge auf dem Land kann Auto fahren. Dafür braucht er keinen Führerschein.“
„Isst Lilou auch mit?“, fragte Leon, während er Teller und Gläser auf dem Küchentisch verteilte.
„Sie ist in ihrem Zimmer, mit Jacob“, sagte Isabelle und deutete dabei kurz zur Decke.
„Mit einem Jungen? Dafür wirkst du aber sehr entspannt.“
„Er ist ein neuer Mitschüler aus ihrer Klasse“, sagte Isabelle.
„Ich bin froh, dass die Trauerphase zu Ende ist.“
„Er ist erst sechzehn, nur ein guter Freund.“
„Nur ein guter Freund, na klar“, sagte Leon mit einem provozierenden Grinsen.
„Du hast keine Ahnung von Frauen“, sagte Isabelle.
In diesem Moment kam Lilou die Treppe hinunter. Sie hatte ein seliges Lächeln im Gesicht. Ihr folgte, brav wie ein kleiner Hund, ein hübscher blonder Junge, gegen den Lilou wie seine ältere Schwester wirkte.
„Das ist Jacob aus meiner Klasse“, sagte sie zu Leon. „Seine Mutter kommt erst spät heim. Ich hab ihm gesagt, er könnte bei uns mitessen“, das ging an Isabelle.
Leon warf einen skeptischen Blick in Richtung der Garnelen.
Jacob sah nicht so aus, als würde er sich mit zwei Tieren zufrieden geben.
„Aber gerne“, sagte Isabelle, und Leon strich in Gedanken die Garnelen seines Lieblingsgeschäfts von seiner inneren Speisekarte.
„Bonsoir, Monsieur le Docteur“, sagte der Junge höflich. Offensichtlich hatte Lilou ihn instruiert, dachte Leon.
„Die toten Krebse essen wir nicht“, sagte Lilou und deutete mit leicht angeekeltem Blick auf die frisch gesottenen Garnelen.
„Wir nehmen nur was vom Couscous und von dem Gemüse. Jacob ist nämlich auch Vegetarier.“
„Also, nicht so direkt“, versuchte Jacob zu widersprechen.
„Ich meine, es riecht ziemlich gut …“
„Du hast mir gesagt, dass du Vegetarier bist“, Lilou klang jetzt vorwurfsvoll.
„Schon, natürlich. Bin ich ja auch, irgendwie. Aber ich dachte, du meinst mehr bei Fleisch und so was.“Jacob wirkte hungrig.
„Die kommen aus indonesischen Garnelenfarmen. Weißt du, was das heißt? Da werden sie schon als Babys mit Penicillin und anderen Drogen geimpft. Und für die Farmen werden riesige Mangrovenwälder zerstört.“
Leon dankte insgeheim den Indonesiern für ihre Unvernunft und ihre miserable Publicity. Die Kinder mussten ja nicht wissen, dass diese Garnelen aus rein biologischer Zucht stammten und fast so teuer waren wie Langusten.