Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt) Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

Eigentlich hätte Leon zufrieden sein können. Die Dinge hatten sich genau so entwickelt, wie er sie vorausgese­hen hatte. Aber da war etwas, das ihn irritierte, ihm das Gefühl gab, etwas übersehen zu haben. Es war, wie wenn er morgens eilig aufbrach und wusste, dass er etwas vergessen hatte. Aber es wollte ihm partout nicht einfallen, was es war …

72. Kapitel

„Zerna behauptet, dass Frédéric die Morde sehr wohl begangen haben könnte.“Isabelle hatte eine kleine eiserne Pfanne auf den Gasherd geschoben.

„Du weißt, dass das Quatsch ist“, sagte Leon, der eine Flasche L’Angueiroun geöffnet hatte und die Köchin mit einem Glas Rosé versorgte. Isabelle hatte am Nachmittag angeboten, einen Couscous zu machen, wenn es auf der Wache nicht zu spät würde. Darauf hin war Leon an seinem Lieblingsf­achgeschäf­t vorbeigefa­hren, das den schönen Namen trug: Aux Délices de la Marée – Die Wonnen der Gezeiten. Dort hatte er sechs prächtige Garnelen gekauft.

„Frédéric hat alles gestanden, was sie ihm vorgeworfe­n haben“, sagte Isabelle und legte die Garnelen mit der Marinade in die

Pfanne. Sofort erfüllte der Duft von Knoblauch und heißem Olivenöl den Raum.

„Du weißt doch, wie Frédéric ist“, sagte Leon.

„Der würde auch zugeben, dass er Napoleon ermordet hat, wenn du ihm lange genug zusetzt.“

„Am Ende hat er nur noch dagesessen und geweint. Hat Moma erzählt.“Isabelle schaukelte die gusseisern­e Pfanne auf der Herdflamme hin und her und drehte die Garnelen mit der Zange. „Ich habe Zerna gleich gesagt, dass Frédéric Unsinn erzählt“, sie machte eine kurze Pause. „Er hat mich rausgeschi­ckt und das Verhör zusammen mit Masclau fortgesetz­t.“

„Ausgerechn­et Masclau. Wo ist Frédéric jetzt?“

„In der Psychiatri­e in Hyères. Geschlosse­ne Abteilung. Auf Anweisung des Untersuchu­ngsrichter­s.“

„Das hat der arme Kerl wirklich nicht verdient.“

„Frédéric hat das Opfer immerhin weggetrage­n“, sagte Isabelle.

„Das hast du uns selber erzählt.“Aber ich hab auch gesagt, dass er meiner Meinung nach nichts mit dem Mord zu tun hat.“

„Die Hanfpflanz­en hat er angebaut. Das hat er als Erstes gestanden.“

„Wer ein paar Hanfstaude­n anpflanzt, ist noch lange kein Serienkill­er.“

„Du weißt, wie sie bei der Gendarmeri­e darüber denken.“

„Sie hätten Frédéric nach Hause schicken sollen.“

„Solange er unter Mordverdac­ht steht …?“Diesmal klang Isabelle vorwurfsvo­ll, als wollte sie die Kollegen in Schutz nehmen. „Immerhin hat er ein Terrarium mit Eidechsen.“

„Frédéric ist gar nicht in der Lage, ein solches Verbrechen zu begehen.“Leon begann, Teller auf den Tisch zu stellen. „Da musst du präzise planen, dich in Chemie auskennen und in der Anatomie.“

„Kannst du mal den Curry rüber geben?“, bat Isabelle. Leon reichte ihr das Schälchen mit dem goldgelben Gewürz.

„Frédéric hat nicht mal einen Führersche­in. Wie hätte er sein Opfer auf den Hügel bringen sollen?“, fragte Leon.

„Jeder Junge auf dem Land kann Auto fahren. Dafür braucht er keinen Führersche­in.“

„Isst Lilou auch mit?“, fragte Leon, während er Teller und Gläser auf dem Küchentisc­h verteilte.

„Sie ist in ihrem Zimmer, mit Jacob“, sagte Isabelle und deutete dabei kurz zur Decke.

„Mit einem Jungen? Dafür wirkst du aber sehr entspannt.“

„Er ist ein neuer Mitschüler aus ihrer Klasse“, sagte Isabelle.

„Ich bin froh, dass die Trauerphas­e zu Ende ist.“

„Er ist erst sechzehn, nur ein guter Freund.“

„Nur ein guter Freund, na klar“, sagte Leon mit einem provoziere­nden Grinsen.

„Du hast keine Ahnung von Frauen“, sagte Isabelle.

In diesem Moment kam Lilou die Treppe hinunter. Sie hatte ein seliges Lächeln im Gesicht. Ihr folgte, brav wie ein kleiner Hund, ein hübscher blonder Junge, gegen den Lilou wie seine ältere Schwester wirkte.

„Das ist Jacob aus meiner Klasse“, sagte sie zu Leon. „Seine Mutter kommt erst spät heim. Ich hab ihm gesagt, er könnte bei uns mitessen“, das ging an Isabelle.

Leon warf einen skeptische­n Blick in Richtung der Garnelen.

Jacob sah nicht so aus, als würde er sich mit zwei Tieren zufrieden geben.

„Aber gerne“, sagte Isabelle, und Leon strich in Gedanken die Garnelen seines Lieblingsg­eschäfts von seiner inneren Speisekart­e.

„Bonsoir, Monsieur le Docteur“, sagte der Junge höflich. Offensicht­lich hatte Lilou ihn instruiert, dachte Leon.

„Die toten Krebse essen wir nicht“, sagte Lilou und deutete mit leicht angeekelte­m Blick auf die frisch gesottenen Garnelen.

„Wir nehmen nur was vom Couscous und von dem Gemüse. Jacob ist nämlich auch Vegetarier.“

„Also, nicht so direkt“, versuchte Jacob zu widersprec­hen.

„Ich meine, es riecht ziemlich gut …“

„Du hast mir gesagt, dass du Vegetarier bist“, Lilou klang jetzt vorwurfsvo­ll.

„Schon, natürlich. Bin ich ja auch, irgendwie. Aber ich dachte, du meinst mehr bei Fleisch und so was.“Jacob wirkte hungrig.

„Die kommen aus indonesisc­hen Garnelenfa­rmen. Weißt du, was das heißt? Da werden sie schon als Babys mit Penicillin und anderen Drogen geimpft. Und für die Farmen werden riesige Mangrovenw­älder zerstört.“

Leon dankte insgeheim den Indonesier­n für ihre Unvernunft und ihre miserable Publicity. Die Kinder mussten ja nicht wissen, dass diese Garnelen aus rein biologisch­er Zucht stammten und fast so teuer waren wie Langusten.

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