Im EU-Parlament ist Fehlverhalten keine Ausnahme
Fast ein Viertel der derzeitigen Europaabgeordneten ist bereits wegen unangemessenen Verhaltens, Korruption, Betrugs- oder Diebstahlskandalen aufgefallen. Doch was sagen diese Zahlen aus?
Die EU sei ein Haufen korrupter und ungewählter Bürokraten. Diese Kritik hört man oft von rechtspopulistischen Parteien, die dabei versprechen, Brüssel aufzuräumen, sollten sie gewählt werden.
Und tatsächlich, rezente Ereignisse scheinen diesen Parteien recht zu geben: So hat der Korruptionsskandal „Qatargate“, der Ende 2022 bekannt wurde, die gesamte EU schockiert: Insgesamt wurden dabei 1,5 Millionen Euro in bar bei EU-Abgeordneten, Lobbyisten und Mitarbeitern beschlagnahmt, die diese mutmaßlich als Belohnung für politische Dienste und Einflussnahme bekamen. Dabei ging es wohl vor allem darum, Katar in Entscheidungen des EU-Parlaments in ein positives Licht zu rücken.
Handelt es sich dabei um einen Einzelfall oder ist derartiges Fehlverhalten im EU-Parlament strukturell? Eine grenzüberschreitende Datensammlung, geleitet vom niederländischen Investigativmedium „Follow the Money“und Partner-Medien, zu denen auch das „Luxemburger Wort“gehört, hat versucht, Antworten auf diese Frage zu finden.
Die Untersuchung hat ergeben, dass fast ein Viertel der derzeitigen Mitglieder des Europäischen Parlaments zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Karriere in einen Skandal verwickelt waren. Insgesamt hat das Reporter-Team 253 Vorfälle ausgegraben, die Schlagzeilen machten und 163 der derzeit 704 Mitglieder des Europäischen Parlaments betrafen. Die Fälle von Fehlverhalten sind dabei sehr divers.
Wie lassen sich diese Zahlen interpretieren?
Die Zahlen sind mit etwas Vorsicht zu genießen. Es werden „viele unterschiedliche Dinge und unterschiedliche Größenordnungen in einer Zahl zusammengefasst“ordnet Anna-Lena Högenauer ein,
EU-Expertin an der Universität Luxemburg. Tatsächlich reichen die aufgegriffenen Fälle von relativen Bagatellen, wie etwa der Verkauf eines gefundenen Handys, bis hin zu schweren Korruptionsvorwürfen. Und die mediale Aufmerksamkeit, die ein Skandal auslöste, sei vielleicht nicht die adäquate Messlatte für präzise Auswertungen, so Högenauer weiter.
Dennoch erlaubt die Recherche es, sich ein Bild über die Integrität der gewählten Volksvertreter auf EU-Ebene zu machen – das Bild ist umso interessanter, da es Perspektiven und Informationen aus den meisten EU-Mitgliedstaaten zusammenbringt.
Unangemessenes Verhalten, Korruption und Betrugs- oder Diebstahlskandale haben die Abgeordneten im Laufe ihrer
Karriere am häufigsten heimgesucht. Dabei gibt es durchaus sehr belastbare Zahlen: Insgesamt haben 23 Parlamentarier diesbezügliche Fälle in Rechtsstreitigkeiten verloren. Die liberale EU-Abgeordnete Monica Semedo ist die einzige luxemburgische Politikerin, die in der Datenbank zu finden ist. Sie wurde zweimal vom EU-Parlament wegen Fehlverhalten gegenüber ihren Assistenten sanktioniert.
Rechte Parteien sind besonders anfällig
Brisant ist dabei, dass ausgerechnet jene Parteien, die Brüssel gerne als korrupt beschimpfen, am meisten in Affären verwickelt sind. Aus der Datenbank der Untersuchung geht nämlich hervor, dass rechte Politiker viel öfters in Skandalen verwickelt waren als Sozialdemokraten oder Grüne.
Dabei werden diese Politiker elektoral kaum deswegen abgestraft, wie die Recherche bemerkt. Der Europaabgeordnete Harald Vilimsky von der rechtsextremen österreichischen Partei FPÖ sitzt beispielsweise seit fast einem Jahrzehnt im Parlament – trotz zahlreicher Bedenken rund um seine Integrität. Auch gegen den AfD-Abgeordneten Maximilian Krah gab es Vorwürfe im Zusammenhang mit einem Auftrag für PR-Arbeiten, den seine rechtsextreme I&D-Fraktion vergeben wollte. Ein anonymer Brief verdächtigte ihn, bei Absprachen zwischen beteiligten Firmen geholfen zu haben. Er bestreitet das. Der Fall wurde als möglichen Betrugsversuch an die EU-Staatsanwaltschaft EPPO weitergeleitet. Dennoch wird Krah 2024 die AfD-Liste für die Europawahlen – wohl erfolgreich – anführen.
„Das Problem ist, dass Wähler derartiges Verhalten nicht immer konsequent bestrafen – auch dann nicht, wenn die Medien darüber informiert haben“, meint Högenauer. „Euroskeptische Wähler haben tendenziell generell weniger Vertrauen in Politiker und Institutionen. Sie bestrafen euroskeptische Abgeordnete und Parteien, die korrupt sind, möglicherweise auch deshalb nicht, weil sie sowieso alle Politiker und Parteien für korrupt halten.“
Auch können Politiker, anders als normale Arbeitnehmer, nicht einfach entlassen werden – nicht einmal, wenn sie gravierende Fehler begehen. Der rechtsradikale Grieche Ioannis Lagos wurde 2020 wegen seiner Beteiligung an der Leitung der rechtsextremen Bewegung „Goldene Morgendämmerung“, die als kriminelle Organisation eingestuft wurde, in Athen verurteilt. Und obwohl er zu mehr als 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ist er von seiner Gefängniszelle in Griechenland aus immer noch als EU-Gesetzgeber aktiv, indem er sich virtuell einwählt, um an parlamentarischen Ausschüssen teilzunehmen.
„Das Grundproblem, dass man Abgeordnete mit Fehlverhalten nicht so leicht absetzen kann, wird allerdings bestehen bleiben, da man sonst zu leicht in die demokratische Willensbildung eingreifen könnte“, kommentiert Högenauer. „Das heißt, dass die Verantwortung beim Wähler bleiben wird. Die Medien spielen bei der Aufdeckung und Aufklärung eine wichtige Rolle. Das braucht allerdings ein gewisses Fingerspitzengefühl für Relevanz“.
Högenauer befürchtet, dass die Öffentlichkeit der Berichterstattung über Skandale müde wird. „Eine rezente Studie hat festgestellt, dass die Medien in den nordischen Ländern immer öfter über Skandale berichten, aber immer weniger Politiker zurücktreten.“Die Gefahr also: „Wenn zu viele Banalitäten aufgebauscht werden, kann das die Wähler desensibilisieren und von den eigentlichen, größeren Skandalen und auch politischen Fragen ablenken“.
Eine Brüsseler Eigenartigkeit?
Auch stellt sich die Frage, ob das EU-Parlament besonders anfällig für Fehlverhalten sei. Nicht unbedingt, meint die EU-Expertin Högenauer weiter: „Andere Parlamente haben leider ähnliche Sor
Das Grundproblem ist, dass man Abgeordnete mit Fehlverhalten nicht so leicht absetzen kann. Anna-Lena Högenauer, EU-Expertin
gen. Auch das britische Parlament hatte in den letzten Jahren mit vielen Skandalen zu kämpfen. Es gab einen sehr großen Skandal um Bereicherung, als herauskam, dass sich eine Reihe Abgeordneter vom Parlament alle möglichen Privatausgaben erstatten ließen. Dann gab es mehrere Skandale, bei denen es um sexuelle Belästigung, sonstiges Fehlverhalten gegenüber von Mitarbeitern und auch anstößiges Verhalten bei Reisen ins Ausland ging.“
Das problematische Verhalten der schwarzen Schafe würde auch das
Image des gesamten EU-Parlaments gefährden, obschon die meisten Abgeordneten dort harte Arbeit leisten, meint dazu Katjana Gattermann, Expertin für politische Kommunikation an der Universität von
Amsterdam. „Das macht es für die meist fleißigen Abgeordneten des Europäischen
Parlaments schwierig, für ihre wahre Arbeit wahrgenommen zu werden.“
Kurz vor den EU
Wahlen soll eine ähnliche Recherche zu den Kandidaten für das EU-Parlament folgen.