Deutscher Bundestag gedenkt den Opfern des Holocausts
Im Deutschen Bundestag treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander. Und Sportmoderator Marcel Reif schenkt Parlament und Republik das Vermächtnis seines jüdischen Vaters
Welches ist der Moment des größten Erschreckens an diesem Vormittag im Reichstagsgebäude, wo seit einem Vierteljahrhundert das Parlament des demokratischen Deutschland tagt und in dem Adolf Hitler niemals geredet hat? Vielleicht der, als Eva Szepesi erzählt, wie ihr als Mädchen von acht Jahren einer ihrer besten Schulfreunde zuruft: „Was glotzt du so blöd, Saujüdin!?“Der Junge spült gerade unter der Wasserpumpe vor Evas Elternhaus in Budapest ein Stück blutiges Fleisch ab. Und als reiche die Schmähung noch nicht, ruft Evas Freund noch: „Ja, schau ruhig her – genauso wird auch bald das Blut von deinem Vater fließen!“
Das liegt an diesem Donnerstag 84 Jahre zurück – aber wohl alle im Plenarsaal und auf den Tribünen spüren den Schrecken und das Nichtverstehenkönnen des Schulmädchens Eva Diamant. Das nun, als Frau von 91, im Parlament des Landes steht, in dem der Holocaust geplant und ins Werk gesetzt wurde, und sagt: „Es ist mir eine große Ehre, heute hier sprechen zu dürfen.“
In Wahrheit liegt die Ehre bei Eva Szepesis Publikum, vom Staatsoberhaupt über die Vertreter der Verfassungsorgane bis zu den Jugendlichen, die der Bundestag eingeladen hat, weil sie sich „für eine lebendige Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus einsetzen“. Sie alle hören, wie Eva Szepesi mit ebenso klaren wie Grauen bergenden Sätzen erzählt, wie sie den Holocaust er- und überlebte, als einzige ihrer Kernfamilie. Verschleppt zur Vernichtung ins Lager Auschwitz-Birkenau, vor Fieber zu schwach, um Anfang 1945 dem Todesmarsch-Befehl der SS zu folgen, gerettet am 27. Januar von einem „russischen Soldaten, der sich mit lächelndem Blick über mich beugte“, und von seiner „Hand, die mich mit kaltem Schnee fütterte“.
„Nie wieder ist jetzt“
Es dauerte 51 Jahre, bis Deutschland begann, sich und die Welt an jedem 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Überlebende wie Eva Szepesi werden rar. Aber nur sie können berichten, wie die Shoah begann: „Nicht mit Auschwitz“, sagt Eva Szepesi, sondern „mit Worten“. Und „mit dem Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft“. Deshalb wünscht sie sich jetzt, wo nach dem Mordterror der Hamas am 7. Oktober in Israel auch in Deutschland wieder Menschen in Angst leben, „nur weil sie Juden sind“, Widerspruch. Ist dankbar für den auf den Straßen, nennt ihn „großartig“– und fordert, dass alle dem Antisemitismus, der Unmenschlichkeit „auch im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz laut widersprechen“. „Denn“, mahnt Eva Szepesi, „nie wieder ist jetzt.“
Es fließen, während sie spricht, im Publikum Tränen. Den ersten öffentlichen Dank aber hört Eva Szepesi von Marcel Reif, dem Sportjournalisten. Sein Vater Leon war Pole und Jude auch und hat, sagt Reif, ihm nichts erzählt über sein Leben im Holocaust. Dieses Schweigen nennt er einen „warmen kuscheligen Mantel“, in den sein Vater ihn gehüllt habe. Er habe nicht gewollt, dass auch seine Kinder „heimgesucht“würden, dass seine Schwester und er „in jedem einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten“.
Seine Mutter hat Marcel Reif erzählt, da war er schon fünfzig, weshalb sein Vater manch
mal im Spiel mit seinem Enkel „für ein paar Minuten unerreichbar war“. Ein Junge, den er und andere bei ihrer Flucht bei einem Bauern zurückließen, hatte das nicht überlebt. „Es tut uns leid“, sagte der, als Leon Reif das Kind nach der Niederlage der Nazis abholen wollte, „die Deutschen kamen – und da mussten wir das Kind die Klippe runterwerfen.“
„Sei – ein – Mensch“
In Berlin hat Marcel Reif später noch mehr erfahren. Ein Mann sprach ihn an und erzählte, Leon Reif habe ihm das Leben gerettet. Auf der Flucht durch die Wälder „hatte mein Vater ihn, den Vierjährigen, auf den Schultern getragen“. Auch da werden viele Augen feucht, so wie zuvor, als Marcel Reif zu Eva Szepesi gesagt hat, mit ihrem Reden gebe sie „diesem neuen, anderen Deutschland mit unfassbar großem Herzen eine zweite Chance – es anders zu machen, besser zu machen und es richtig zu machen“.
Wie das gehen kann, sagt Reif zum Schluss. Sein Vater Leon habe nämlich „doch gesprochen“, er wisse das nun. „Was er gerettet hatte – das alles hat er in einen kleinen Satz gepackt“, drei Worte nur, „in seinem warmen Jiddisch“– oft gesagt: „Sei a Mensch.“Eva Szepesis Vater hat seine kleine Tochter getröstet, als ihre Freunde ihr so brutal seinen Tod ankündigten: „Jemand hat sie gegen uns aufgehetzt. Sie tragen keine Schuld.“
84 Jahre später sagt Marcel Reif, „wenn Sie mögen, dann lass’ ich Ihnen diesen kleinen und wundervollen Satz hier“. Und zu jedem Wort pocht er mit seiner Hand aufs Rednerpult: „Sei – ein – Mensch.“Vielleicht ist das der Moment der größten Erkenntnis. Vielleicht.