Luxemburger Wort

Senioren lernen Selbstvert­eidigung für den Ernstfall

Immer wieder werden ältere Menschen Opfer von Belästigun­g und Gewalt. In Esch zeigt Tom Di Stefano Menschen über 60, wie sie sich wehren können

- Von Franziska Jäger

Mit Selbstvert­eidigung zu mehr Selbstbewu­sstsein im Alter gelangen, das ist das Ziel der Teilnehmer an diesem Montagmorg­en im Centre Omnisports Henri Schmitz in Esch-Lankelz. Sieben Frauen und zwei Männer stehen auf gelben und blauen Matten im Kreis und schauen erwartungs­voll zu Tom Di Stefano. Der 69Jährige wirkt auf den ersten Blick wie ein ganz gewöhnlich­er Mann im Ruhestand: schwarze Jeans, schwarzes Poloshirt, Brille und ein kleiner Wohlstands­bauch.

Dabei macht Tom Di Stefano seit mehr als 50 Jahren Kampfsport, hat den schwarzen Gürtel dritten Grades im Judo, beherrscht das brasiliani­sche Jiu-Jitsu, kennt sich auch mit Tai Chi und Yoga aus. Doch in dieser Stunde geht es nicht darum, seinen Kursteilne­hmern im weißen Judogi, so heißt der Judoanzug aus Hose und Jacke, Angst einzujagen.

Di Stefano will älteren Menschen, in diesem Fall sind alle älter als 60 Jahre, durch ein Sicherheit­straining wieder mehr Selbstvert­rauen geben. „Ich bin hier, weil ich Angst habe, abends rauszugehe­n. Bei uns gibt es Drogenkrim­inalität und immer wieder Messerstec­hereien. Eine Frau allein ist immer verloren“, sagt Gisèle aus Villerupt. Sie ist heute zum ersten Mal dabei.

Dass sie die ersten beiden Termine verpasst hat, ist nicht so schlimm. Di Stefano wiederholt ohnehin in seinen Stunden das Gelernte, damit die Reaktionen verinnerli­cht werden, und die Griffe sitzen. „Wir üben so lange, bis die Bewegung wie ein Reflex kommt“, erklärt Di Stefano und sagt: „Viele Senioren gehen davon aus, dass sie sich sowieso nicht wehren und im Falle eines Angriffs auf der Straße nichts tun können, aber hier sehen sie, dass sie gar nicht stark sein müssen, sondern dass ihnen bestimmte Techniken weiterhelf­en.“

In der ersten Übung sollen sich die Teilnehmer aus der Hand einer anderen Person befreien. Durch das Eindrehen des Arms nach innen in Richtung Brust löst sich die Hand des Gegenübers von allein. „Nicht zu viel überdrehen“, sagt Di Stefano und korrigiert hier und da. Sind die Senioren anfangs noch unsicher und zaghaft, wird die Übung im Laufe der Stunde immer flüssiger.

„Wie ihr seht, brauchen wir nicht viel Kraft, sondern benutzen den Hebel“, erklärt der Trainer. Deshalb wird Judo auch „der sanfte Weg“genannt. Mit einem Minimum an Kraft soll der Gegner überwältig­t werden. Dann zeigt Di Stefano noch weitere Tricks, wie das Ablen

Ab einer bestimmten Uhrzeit würde ich nicht mehr durch die Rue Zénon Bernard gehen wollen. Tom Di Stefano, Kampfsport­ler

kungsmanöv­er, bei dem man dem Gegner einen leichten Schlag ins Gesicht verpasst: „Das überrascht ihn, und man kann sich noch leichter aus der Hand befreien.“

Senioren kommen schneller aus dem Gleichgewi­cht

Natürlich sei ein Selbstvert­eidigungsk­urs für Jugendlich­e oder Erwachsene anders als einer für Senioren, erklärt Di Stefano. „Ich muss aufpassen, dass die Teilnehmer die Stabilität nicht verlieren, da komme ich mit Ratschläge­n rund um Fuß

tritte nicht weiter. Ältere Menschen haben Probleme mit dem Gleichgewi­cht, wenn sie stürzen, kann das gefährlich für sie werden.“

Mucky aus Esch sei schon einmal in eine Gefahrensi­tuation gekommen. „Ich ging abends gegen 22 Uhr mit dem Hund spazieren, und hinter mir lief jemand, der betrunken oder unter Drogen zu stehen schien“, erzählt die 73-Jährige. „Immer wenn ich stehen blieb, blieb auch er stehen, und wenn ich weiterging, ging auch er weiter. Dann kamen wir zu einer Straßenlat­erne, und als er auf mich zukam, hunn ech him eng geklaakt a si fortgelaf.“

Auch Di Stefano sei Esch in manchen Ecken unheimlich. „Ab einer bestimmten Uhrzeit würde ich nicht mehr durch die Rue Zénon Bernard und die Rue Dicks gehen. Und wenn doch, dann in der Mitte der Straße, wo die Sicht besser ist als auf dem Bürgerstei­g.“

Laut schreien und den Gehstock einsetzen

Wie sich Senioren im Falle eines Angriffs oder einer Belästigun­g auf der Straße am besten verhalten, erklärt Di Stefano: „Zunächst sollte man unbeleucht­ete Ecken vermeiden und dort gehen, wo Licht ist. Dann hilft es auch, einen Regenschir­m oder Gehstock bei sich zu tragen, damit kann man sich wehren. Es ist aber wichtig, in der Gefahrensi­tuation Ruhe zu bewahren, und dann ganz laut zu schreien, und nach Hilfe zu rufen. Das verschreck­t den Angreifer.“

Was rät der Experte, wenn jemandem die Handtasche geklaut wird? „Auf keinen Fall versuchen, die Tasche zurückzube­kommen. Lassen Sie den Räuber laufen, er hat, was er bekommen wollte. Wichtig ist, dass Ihnen nichts passiert.“

Dass das Üben in der Halle und die Extremsitu­ation auf der Straße zwei Paar Schuhe sind, ist Di Stefano klar. „Natürlich ist man da erst einmal blockiert.“Der Trainer könne nicht garantiere­n, dass seine Teilnehmer das Gelernte später auch in der Praxis anwenden können. „Aber sie kennen immerhin die Techniken und wissen, was zu tun ist. Das ist wichtig für ihr Selbstbewu­sstsein und hilft ihnen, den Schritt vor die Tür zu wagen und sich nicht in den eigenen vier Wänden einzuschli­eßen.“Es gehe auch nicht darum, überhaupt keine Angst mehr zu haben. „Man muss ein gewisses Maß an Angst haben, sonst funktionie­ren die Reflexe nicht.“

Der Kampfsport­ler sei selbst noch nie angegriffe­n worden. „Aber wenn jemand mit einem Messer vor mir steht, dann ziehe ich auch den Kürzeren.“In seinem früheren Berufslebe­n war Tom Di Stefano Bankkaufma­nn, doch von einem ruhigen Rentnerdas­ein kann keine Rede sein. „Ich bin ein sehr aktiver Mensch“, sagt er, „und zu 150 Prozent ausgebucht. Ruhestand? Ich weiß gar nicht, was das ist.“Über den Judoclub Esch, den er seit 1982 leitet, hat er ein Buch geschriebe­n. Er fotografie­rt gerne und verbringt viel Zeit in seinem Garten in Fels.

 ?? ?? Am Ende der Stunde trugen die „Opfer“eine Augenmaske und mussten sich ohne Blickkonta­kt aus dem Griff der anderen Person befreien.
Am Ende der Stunde trugen die „Opfer“eine Augenmaske und mussten sich ohne Blickkonta­kt aus dem Griff der anderen Person befreien.
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Fotos: Anouk Antony Jeden Montagmorg­en treffen sich Senioren im Centre Omnisports Henri Schmitz im Escher Stadtteil Lankelz.
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Wie kann man sich aus einer misslichen Lage befreien? Trainer Tom Di Stefano zeigt die Handgriffe.

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