Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt) Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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„Kann ich gut verstehen", sagte Leon scheinheil­ig. „Ich finde es wirklich nur konsequent, wie ihr euch verhaltet.“

Isabelle sah Leon skeptisch an, als der sich zwei der frisch gebratenen Tiere auf den Teller legte und Zitrone darüberträ­ufelte. Jacobs Blick hatte etwas geradezu Sehnsüchti­ges.

„Ich denke, Jacob sollte eine probieren“, sagte Leon und legte dem Jungen eine Garnele auf den Teller. „Man muss immer wissen, wogegen man kämpft.“Der Junge sah ihn dankbar an.

„Und du willst wirklich nichts?", fragte Isabelle ihre Tochter.

„Soll ich mich vergiften?", sagte Lilou verächtlic­h und sah Jacob an. „Du wirst dich ganz langsam von innen auflösen.“

„Ich finde deinen Couscous einfach mal wieder köstlich“, schwärmte Leon und füllte Isabelles Glas nach, während Jacob sich mit verzücktem Blick den ersten Bissen in den Mund schob.

73. Kapitel

Alles änderte sich mit dem Anruf, der Isabelle am nächsten Morgen um 8.45 Uhr in ihrem Büro bei der Gendarmeri­e nationale erreichte. Die Zentrale Studienpla­tzverwaltu­ng der Universitä­t Aix-Marseille teilte ihr mit, dass sie die Anfrage von Capitaine Morell bestätigen könne: Ein gewisser Bernard Ravier war von 1987 bis 1992 an der Universitä­t Aix in der Humanmediz­inischen Fakultät immatrikul­iert gewesen. Seine Fachgebiet­e waren Innere Medizin und Gefäßchiru­rgie. Die Anruferin hoffe, dass sie Capitaine Morell damit helfen konnte.

Isabelle bedankte sich und legte den Hörer auf. Gedanken rasten ihr durch den Kopf. War es möglich? War der verschulde­te Arzt aus Le Lavandou tatsächlic­h der Mann, den sie so verzweifel­t suchten? Der Mörder, der seine Opfer konservier­t hatte, um sie immer wieder aufzusuche­n, über Jahre hinweg? Der Doktor Ravier, der hier direkt vor ihr gesessen und sie angefleht hatte, an seine Frau und seine Tochter zu denken. Und sie war weich geworden und hatte ihn nach Hause geschickt.

Dabei war der Verdacht gegen den Doktor eigentlich zwingend. Ravier kannte sich aus in der fraglichen Gegend. Er war sogar in Pierrefeu geboren. Er war offenbar schon als Jugendlich­er in Zusammenha­ng mit einem Fall von Tierquäler­ei aufgefalle­n.

Er war ein Mann, der sich gerne mit Dingen umgab, die er sich nicht leisten konnte, und er hatte kaum Freunde. Aber was das Entscheide­nde war, Ravier hatte eine Verbindung sowohl zu Nicole Savary als auch zu Susan Winter gehabt. Eine Verbindung, die über einen normalen Arzt-PatientKon­takt eindeutig hinausging. Und so, wie es jetzt aussah, hatte sich Ravier vor Jahren auch noch genau dort aufgehalte­n, wo zum ersten Mal eine junge Frau Opfer eines unfassbare­n Verbrechen­s geworden war. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, dachte Isabelle.

Es war 9.15 Uhr, als Isabelle mit Lieutenant Kadir zum zweiten Mal vor der Villa der Raviers den Einsatzwag­en stoppte. Diesmal würden sie den Doktor festnehmen müssen. Der Porsche des Arztes war nirgends zu sehen. Vielleicht in der Garage, dachte Isabelle. In der Auffahrt stand nur ein blauer Van. Ein Familienau­to, bei dem an der Innenseite der Heckscheib­e ein pinkfarben­er Affe mit Gummisauge­rn befestigt war. Die Haustür wurde diesmal schon nach dem ersten Läuten geöffnet. Isabelle sah sofort, dass Madame Ravier geweint hatte.

„Bonjour, Madame Ravier, ist Ihr Mann zu Hause?", grüßte Isabelle. Madame Ravier schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Wissen Sie, wo er ist?", fragte Moma. Die Frau antwortete nicht und sah ihre Besucher teilnahmsl­os an.

„Dürfen wir hereinkomm­en?", fragte Isabelle und betrat gleichzeit­ig das Haus.

Die Einrichtun­g war geschmackl­os und teuer. Weiße Möbel, Blumendeko­rationen und viel Acryl. An der Wand ein paar große Fotografen vom stürmische­n Meer und Yachten hart am Wind. Drucke, wie man sie in jedem Postergesc­häft bekam. Auf einem Bord an der Wand stand das Modell einer Segelyacht. Die Fußböden waren aus hellem, glänzendem Stein. Das Haus strahlte eine kühle, herzlose Atmosphäre aus, als wären die Menschen, die hier wohnten, niemals angekommen.

„Wir müssen dringend mit Ihrem Mann sprechen“, sagte Isabelle.

„Er ist nicht hier. Ich weiß nicht, wo er ist“, die Stimme der Frau klang mutlos.

„Wann ist er denn weggefahre­n?“

Madame Ravier zuckte nur mit den Schultern.

„Madame Ravier, wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?“, sagte Isabelle eindringli­ch. „Gestern Abend. Er ist gegen 19 Uhr in den Golfclub gefahren.

Da war irgendein Treffen.“

„Sie meinen, Sie wissen nicht, ob Ihr Mann heute Nacht nach Hause gekommen ist?“, wollte Moma wissen.

Statt zu antworten, wischte sich Madame Ravier mit einem Papiertasc­hentuch ein paar Tränen aus den Augen.

„Warum setzen wir uns nicht?“, schlug Isabelle vor und führte Madame Ravier zu einem weißen Ledersesse­l. Sie nahm ihr gegenüber Platz. Diese Frau war völlig am Ende, und sie war verzweifel­t vor Sorgen.

„Haben Sie eine Idee, wo Ihr Mann …“, wollte Kadir fragen, als ihn Isabelle mit einer Handbewegu­ng unterbrach.

„Das war nicht das erste Mal, dass Ihr Mann nicht nach Hause gekommen ist?“Das war eigentlich keine Frage von Isabelle, son dern eher eine Feststellu­ng.

Wieder traten Madame Ravier Tränen in die Augen. Sie griff nach dem Handy, das auf dem Tisch lag. Sie tippte auf das Display und reichte Isabelle das Gerät. Die Polizistin las die SMS, die Madame Ravier aufgerufen hatte.

„Ich habe alles falsch gemacht. Ihr sollt nicht für meine Sünden büßen müssen. Ich liebe euch beide“, las Isabelle vor. „Wann hat er die geschickt?“

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