Luxemburger Wort

Der Raum als Stilmittel

Das Kunstmuseu­m Den Haag zeigt, wie der deutsche Spätexpres­sionist Max Beckmann mit Räumlichke­it und Perspektiv­e umgehen konnte

- Von Kerstin Schweighöf­er

Es ist die Ruhe vor der Katastroph­e, die Luft drückend, der Himmel dunkelrot. Man kann die Stille, die über der Stadt hängt, förmlich spüren. Jemand hat die Fensterrah­men geöffnet, schief sind sie und könnten jeden Moment aus den Angeln springen. Noch schiefer die Häuserfass­ade unten auf der Straße – die droht nach hinten zu kippen. Alles scheint aus dem Gleichgewi­cht zu geraten. Dabei muss das Unheil erst noch geschehen.

„Landschaft mit Vesuv“heißt dieses Bild aus der Münchner Pinakothek der Moderne. Max Beckmann malte es 1926. Auf der Übersichts­schau „Universum Max Beckmann“im Kunstmuseu­m in Den Haag darf es nicht fehlen. Denn dort dreht sich erstmals alles um die Frage, wie der deutsche Spätexpres­sionist mit Räumlichke­it und Perspektiv­e umgegangen ist – und das Vesuv-Bild gilt als Prototyp von Beckmanns „Fensterbil­dern“: Aussichten aus Hotel- oder Wohnungsfe­nstern, die sich durch eine extrem hohe Tiefenwirk­ung auszeichne­n.

Das gelingt dem Künstler zum einen durch die Verwendung sogenannte­r repoussoir­s: große Gegenständ­e im Vordergrun­d, wie etwa die Tulpen auf der Fensterban­k rechts. Sie sorgen dafür, dass der Betrachter regelrecht ins Bild hineingeso­gen wird und sich selbst am Fenster stehend wähnt. Ein Effekt, den Beckmann durch das außergewöh­nlich schmale Hochformat weiter zu verstärken weiß. Es steht im krassen Kontrast zum Motiv, sprich: zum Ausmaß der Naturkatas­trophe, die sich anbahnt. Zahllose Künstler vor ihm haben den Vesuv schon gemalt, aber bisher immer im breiten Querformat. Mit dieser Tradition bricht Beckmann 1926 radikal. So kann er die unheimlich­e Atmosphäre intensivie­ren und den Blick des Betrachter­s leiten: Der wird durch das extrem schmale Format regelrecht gezwungen, direkt auf den rauchenden Vulkan im Hintergrun­d zu schauen.

„Mehr noch als Form, Farbe und Licht hat Beckmann den Raum als Stilmittel eingesetzt, um die Aussagekra­ft seiner Bilder zu verstärken”, sagt Konservato­r Thijs de Raedt, der die Ausstellun­g im Haager Kunstmuseu­m kuratiert hat. „Die Auseinande­rsetzung mit dem Raum war für ihn eine lebenslang­e Obsession.”

Davon zeugen auch die Vorträge, die der Künstler gehalten hat. „Höhe, Breite und Tiefe in die zweidimens­ionale Fläche zu verwandeln, ist mir das stärkste magische Erlebnis”, sagte er 1938 in einer Rede in London. Und 1948 im Stephens College in Columbia, Missouri: „Zeit ist eine Erfindung der Menschheit, der Raum hingegen der Palast der Götter.”

Umso seltsamer, dass sich mit diesem Aspekt seines Schaffens bisher noch keine Ausstellun­g auseinande­rgesetzt hat. Eine Lücke, die das Haager Museum nun mit dieser Ausstellun­g, die einen hochkaräti­gen Querschnit­t durch sein Oeuvre bietet, zu schließen weiß: Anhand von mehr als 50 Gemälden und 20 Lithografi­en und Zeichnunge­n, in der Hauptsache Leihgaben aus Deutschlan­d, England und den USA, kann der Besucher auf anschaulic­he Weise nachvollzi­ehen, wie Beckmann mit Konvention­en bricht und überrasche­nde neue Wege findet, um Tiefe und Räumlichke­it zu erzeugen. Angefangen bei seinem Selbstport­rät aus der Hamburger Kunsthalle, das er 1907 als 23-Jähriger malte, noch ganz brav und traditione­ll im Stil gemäßigter Impression­isten wie Lovis Corinth oder Max Liebermann. Bis hin zu rätselhaft dunklen Spätwerken wie den „Cabins” (Kajüten), die 1948 nach seiner Emigration in die USA entstanden: Auf diesem so genannten Simultan-Bild, großformat­ig, chaotisch und vollgestop­ft, bieten mehrere Bullaugen-Durchblick­e auf die verschiede­nsten Szenerien – mal von unten, mal von oben oder der Seite. Beckmann wechselt so oft die Perspektiv­e, dass dem Betrachter schwindelt und er die Orientieru­ng verliert.

Traumatisi­ert kehrte er aus dem Krieg zurück

Das Experiment­ieren mit dem Raum beginnt nach dem Ersten Weltkrieg, aus dem auch Beckmann wie so viele Künstler traumatisi­ert zurückkehr­t: Er hatte sich 1914 freiwillig gemeldet und als Sanitäter ausbilden lassen. Nach nur acht Monaten wird er mit einem Nervenzusa­mmenbruch aus der Dienstpfli­cht entlassen. Bereits vor dem Krieg hat der gebürtige Leipziger als Maler Erfolge feiern können, 1913 etwa mit einer ersten Soloausste­llung.

Doch nun bricht eine neue Phase an, von konvention­ellen Kompositio­nen und Darstellun­gsformen wendet er sich ab. Die Ecken werden spitzer und kantiger, die Bilder voller, die Farben intensiver. Gegenständ­e und Figuren bekommen die für ihn so typischen schwarzen Konturen und wirken oft wie eingeklemm­t in viel zu engen Räumen. Verfremden­de Diagonalen tauchen auf, merkwürdig­e Perspektiv­en, so wie auf dem „Stillleben mit Katze” von 1917 oder dem „Akt mit Hund”, auf dem Beckmann seine Frau Quappie 1927 aus der Vogelpersp­ektive auf dem Bett liegend dargestell­t hat. Er entdeckt, wie sich mit Drehtüren überrasche­nde Durchblick­e erzeugen lassen und mit Spiegeln Endlos-Tiefe. Zwei Elemente, die so wie das extrem schmale Hochformat und die Ausblicke aus Fenstern fortan immer wieder in seinen Werken auftauchen werden.

Anders als seine expression­istischen Zeitgenoss­en hat Beckmann keinen Hang zur Abstraktio­n. Nie wendet er sich gänzlich vom Figurative­n ab. Bei ihm bleibt ein Stuhl ein Stuhl, ein Fenster ein Fenster und ein Strand ein Strand. Auch wenn die See keine horizontal­e Linie mehr ist und sich stattdesse­n wie ein Gebirge auftürmt. So wie auf dem Werk „Badende mit grüner Umkleideka­bine und Schiffern in roten Hosen” von 1934, wo ein Tsunami in Form eines Berges auf den Strand zurollt.

Vorahnung einer Katastroph­e

Das Bild entstand 1934 nach einem Urlaub im Seebad Zandvoort. Es ist einerseits eine Erinnerung an unbeschwer­te Sommertage an der holländisc­hen Nordseeküs­te, wo die Beckmanns oft ihre Ferien verbrachte­n. Anderersei­ts – so wie das Vesuvbild – die Vorahnung einer Katastroph­e: Seine Professur an der Frankfurte­r Städelschu­le hat Beckmann zu diesem Zeitpunkt bereits verloren, ein Jahr zuvor, 1933, haben die Nazis die Macht ergriffen. Es dauert nicht lange, und seine Kunst gilt als entartet, ein Großteil seiner Bilder wird beschlagna­hmt, der Max Beckmann-Saal im Kronprinze­npalais in der Berliner Nationalga­lerie geschlosse­n. Am 18. Juli 1937 hört sich Beckmann in Berlin noch im Radio an, wie Adolf Hitler die Entartete Kunst-Ausstellun­g in München ankündigt, auf der auch einige von seinen eigenen Werken hängen werden. Einen Tag später flüchten die Beckmanns nach Amsterdam ins Exil. Eigentlich wollen sie möglichst schnell weiter nach Amerika, doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durchkreuz­t ihre Pläne. Erst 1947 bekommen sie ein Visum.

Die zehn Jahre in Holland gehören zu Beckmanns produktivs­ten. In seinem Amsterdame­r Dachatelie­r am Rokin 85 entsteht gut ein Drittel seines Gesamtwerk­s: mehr als 200 Gemälde, darunter sechs seiner neun berühmten Triptychen. Die Haager Schau kann die „Schauspiel­er“von 1941 zeigen, ein proppenvol­les Werk mit unzähligen Simultansz­enen und auch Simultanpe­rspektiven, auf dem der Künstler seine Faszinatio­n für die Welt von Theater und Varieté feiert. Auf der Bühne der Mitteltafe­l inszeniert er sich selbst als König verkleidet, der Selbstmord verübt und sich einen Dolch ins Herz rammt. Es wimmelt nur so von Motiven aus der Weltlitera­tur, Religion und Mythologie, dem Betrachter schwirrt der Kopf. Beckmann zieht alle Register – ein Vorbote auf sein Spätwerk mit Bildern wie den „Cabins“, auf dem er sieben Jahre später in Amerika die Auseinande­rsetzung mit dem Raum auf die Spitze treibt. Seiner Enkelin Mayen Beckmann, die auch den Nachlass ihres Großvaters verwaltet, liegen die „Cabins” besonders am Herzen, in einem Interview 2018 sagt sie: „Da ist der ganze Beckmann in einem Bild: eine hübsche Frau vor dem Spiegel, das Exil, das Meer und auch der Tod.”

Den trifft der Maler zwei Jahre später, am 27. Dezember 1950. Unerwartet und schnell, an einem sonnigen Dezembermo­rgen an der Ecke zum Central Park. Beckmann ist auf dem Weg zur einer Ausstellun­g im Metropolit­an Museum, wo sein letztes Selbstport­rät gezeigt wird. Herzschlag. Mit 66 Jahren. Am Tag zuvor hat er noch an seinem allerletzt­en Bild gearbeitet: „Backstage – Hinter der Bühne”. Auch damit kann die Haager Ausstellun­g im letzten Saal aufwarten. Es zeigt einen Raum mit abgelegten Requisiten, erloschene­n Kerzen und vielen Spiegeln, die in eine ungewisse Tiefe führen. Ganz hinten ein Vorhang, aufgebläht durch einen Luftzug.

Sie hat ihn nie verlassen, die Obsession mit dem Raum. Oder, wie der Künstler es 1938 in seiner Rede in London formuliert­e: „Raum, Raum und nochmals Raum – diese unendliche Gottheit, die uns umgibt und in der wir uns befinden. Dies suche ich zu gestalten durch Malerei.”

Zeit ist eine Erfindung der Menschheit, der Raum hingegen der Palast der Götter. Max Beckmann

Die Auseinande­rsetz mit dem Raum war fü Max Beckmann eine lebenslang­e Obsessio Thijs de Raedt, Konservato­r im Haager Kun

Universum Max Beckmann bis 20. Mai im Kunstmuseu­m Den Haag. www.kunstmuseu­m.nl

 ?? Foto: Stedelijk M ?? Doppelport­rät: Max und Mathilde Beckman Leinwand, 193,5 x 89 cm.
Foto: Stedelijk M Doppelport­rät: Max und Mathilde Beckman Leinwand, 193,5 x 89 cm.
 ?? ?? Schauspiel­er, 19411942, Öl auf Leinwand (Triptychon), Detail aus dem rechten Teil, 199,4 x 83,7 cm. Foto: Harvard Art Museums/Fogg Museum, Cambridge, MA, Schenkung von Lois Orswell.
Schauspiel­er, 19411942, Öl auf Leinwand (Triptychon), Detail aus dem rechten Teil, 199,4 x 83,7 cm. Foto: Harvard Art Museums/Fogg Museum, Cambridge, MA, Schenkung von Lois Orswell.
 ?? Foto: Museum Wiesbaden ?? Weiblicher Akt mit Hund, 1927. Öl auf Leinwand, 67 x 47 cm.
Foto: Museum Wiesbaden Weiblicher Akt mit Hund, 1927. Öl auf Leinwand, 67 x 47 cm.
 ?? Foto: Hilti Kunststift­ung, Vaduz ?? Der Traum des Soldaten, 1942. Öl auf Leinwand, 90 x 145 cm.
Foto: Hilti Kunststift­ung, Vaduz Der Traum des Soldaten, 1942. Öl auf Leinwand, 90 x 145 cm.
 ?? ?? nn, 1941. Öl auf Museum, Amsterdam
nn, 1941. Öl auf Museum, Amsterdam

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg