Geschichte, die tragische, schicksalhafte oder verbrecherische Züge trägt
In „Broken Memories“zeigt Andréas Lang eine visuelle Archäologie des Osmanischen Reiches, des christlich-armenischen Erbes und des Genozids an den Armeniern
Andréas Langs fotografische Welt ist schon seit vielen Jahren der Nahe Osten. Für seinen Zyklus „Eclipse“fotografierte er seit 2006 in Zentral-Anatolien, in Syrien, Israel, Palästina und Ägypten: berückende Landschaftsbilder in Schwarzweiß, die – so der Fotograf – eine „Authentizität in der Empfindung“wiedergeben sollen.
Es sind dunkle, düstere Landschaften, die er uns in seinem 2008 erschienenen Buch „Eclipse“zeigt, auch Architekturlandschaften wie eine Wohnsiedlung auf der Westbank etwa, eine nächtliche Szene in Jerusalem oder eine syrische Ruinen-Stadt im Mondlicht. Was HansMichael Koetzle damals in seinem Buchbeitrag geschrieben hat – es passt auch zu dem vor kurzem erschienenen neuen Band des Fotografen: „Sein Werk ... holt zeitlich, räumlich, geistig weit aus, dockt an bei den großen Mythen, Märchen und Legenden einer vorzugsweise europäischen Zivilisation. Quelle seiner Inspiration ist die Geschichte, auch und gerade dort, wo sie tragische, schicksalhafte oder verbrecherische Züge trägt.“
„Broken Memories“nun, der aktuelle, bei Kerber erschienene, quadratische Band, ist ausschließlich in der Türkei fotografiert. Lang interessieren die diversen historischen Schichten, Einschreibungen und Überschreibungen: Er sieht das Land, sieht Architektur als Palimpsest, fotografiert Orte, betreibt eine visuelle Archäologie des Osmanischen Reiches, des christlich-armenischen Erbes und auch des Genozids an den Armeniern im Jahr 1915: dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Ein Genozid, der von offizieller türkischer Seite immer noch bestritten wird.
Auf der Suche nach Relikten armenischer Geschichte
Die Farb- und Schwarzweißfotografien in diesem Buch, sie befinden sich in einem „Schwebezustand“, so Lang, in einem Zustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Imagination. So zeigt er uns etwa Hasankeyf in Südosten-Anatolien, wo im Jahr 2020 für den Bau des Ilisu-Staudamms Teile der historischen Stätten überschwemmt wurden.
Über fünf Jahre hat Lang in der Türkei fotografiert, auf der Suche nach den Relikten armenischer Geschichte. Er findet Spuren davon, in Ruinen von Kirchen, in archäologischen Parks, in den rudimentären Resten des ehemals armenischen Dorfes Stanoz, in einem Graben der Schlacht von Gallipoli, an den Orten der Massaker an Armeniern.
Von Stanoz ist nicht mehr viel übrig: eine Felsformation mit ein paar alten Grabsteinen. Das Dorf in der Nähe Ankaras verschwindet nach und nach, erodiert. Und auch die armenische Kirche St. Sarkis in Sur ist eine Ruine – eine Ruine, die es in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung gar nicht geben sollte.
Die verfallenen Kirchen der 2016 zum Weltkulturerbe erklärten Geisterstadt Ani im Osten der Türkei – wichtige Zeugnisse armenischer Architekturkultur – stehen beispielhaft für die Vernachlässigung, mit der die Türkei diesem Erbe zumeist begegnet, das auch in der Hauptstadt Istanbul kaum mehr spürbar, dennoch vorhanden ist. Lang hat Stufen im Stadtzentrum fotografiert, die zum Gezi-Park führen. Hier war einst ein armenischer Friedhof.
Erinnerung kennt zumeist nur der Sieger
Dieses Buch zeigt vor allem die Abwesenheit, das Fehlen von Relikten der Geschichte. „Was mir auffiel, war das völlige Fehlen jeglicher Informationen, jeglicher Geschichte, insbesondere in den östlichen und südöstlichen Regionen, über die Menschen, die dort vor dem Völkermord lebten“, so hat es Lang in einem Interview beschrieben.
Allenfalls Ruinen sind noch vorhanden. Geschichte, Erinnerung in der Türkei, das ist eine
Die Türkei begegnet seinem armenischen Erbe zumeist vernachlässigend.
Konstruktion von Geschichte, die zumeist nur Sieger kennt. Bilder auch davon fotografiert Lang, etwa den Kult, der um Kemal Atatürk, den Begründer der Republik Türkei betrieben wird. Noch in der schäbigsten Werkstatt in Istanbul finden wir das heldenhafte Bild des Vaters der Türken – er ist die Symbolfigur des türkischen Nationalbewusstseins.
Lang, der lange in Paris gelebt hat und seit 1995 künstlerische Projekte zumeist in analoger Technik realisiert, zeigt dieses Nationalbewusstsein, diese Symbole der Selbstbehauptung, zeigt die kollektive Erinnerung. Fotografiert in historischen Museen, zeigt Dioramen von Schlachtfeldern, zeigt in visuell zeitloser Art und Weise die Rekonstruktion der Geschichte, den vorherrschenden Narrativ, die Verleugnung und Verdrängung von Historie und die Brüche: die beunruhigenden, zum Teil auch unheimlichen „Broken Memories“der türkischen Gegenwart. Das schlicht und stimmig gestaltete Buch versammelt auch verschiedene Texte zum Thema.