Schwarzer Lavendel
„Heute Morgen, gegen halb sechs“, sagte Madame Ravier leise und schluckte ihre Tränen herunter. „Ich war die ganze Nacht auf und habe gewartet, dass er zurückkommt.“
„Sie haben sicher versucht, ihn anzurufen?“
„Immer wieder, aber es meldet sich nur die Mailbox.“
„Soll ich eine Fahndung rausgeben?“Moma sah Isabelle an.
„Ja, aber informiere Thierry“, sagte Isabelle und wendete sich an Madame Ravier. „Wir brauchen die Handynummer Ihres Mannes und sein Autokennzeichen.“
Die Suche nach Bernard Ravier verlief zunächst ergebnislos. Weder erinnerte sich jemand im Golfclub, wann Ravier am Abend gegangen war, noch hatte er sich in seiner Praxis gemeldet. Schließlich war es Leon, der die richtige Idee hatte, wo man den Arzt finden könnte. Zusammen mit Isabelle und ihrem Team fuhr er in den Forêt Nationale. Sie entdeckten den Porsche keine dreißig Meter vom Löschteich entfernt. Der Wagen war auf dem steilen, schlammigen Feuerwehrweg abgerutscht und im Graben hängengeblieben. Der Schlüssel steckte noch. Schließlich fanden sie auch Doktor Ravier, er hing am Ast einer alten Platane.
„Warten Sie!“, rief Leon, als zwei Polizisten loslaufen wollten, um den Arzt herunterzuholen. „Der Mann ist tot. Fassen Sie ihn nicht an.“
Isabelle rief ihre Leute zurück, und Leon stand alleine bei dem Toten. Der Baum, an dem er hing, wuchs am Waldrand, nur ein paar Meter vom Ufer entfernt.
Er hat sich einen verschwiegenen Platz zum Sterben ausgesucht, dachte Leon. Es hätten um diese Jahreszeit Tage vergehen können, bevor jemand hier oben vorbeikam. Das Seil, mit dem sich Ravier das Leben genommen hatte, war aus geflochtenen Kunstfasern, solche Taue wurden vor allem auf Booten verwendet. Es hatte sich tief in den Hals des Opfers eingeschnitten. Leon ging langsam um den Toten herum und betrachtete die Einblutungen, die durch den Druck des Seils entstanden waren. Dort, wo sich die Schlinge zugezogen hatte, waren breite Hämatome zu erkennen. Ein Zeichen dafür, dass der Tod langsam eingetreten war. Außerdem war Blut aus der Nase des Opfers ausgetreten. Auch das sprach dafür, dass der Tod nicht plötzlich gekommen war. Urin und Fäkalien hatten auf der Designerjeans des Mannes große dunkle Flecken hinterlassen, als der Schließmuskel des Sterbenden versagte.
Leon blieb stehen. Im Gras am Boden lag ein umgestoßener hellgrüner Plastikeimer. Der Arzt musste ihn als Podest benutzt, sich die Schlinge um den Hals gelegt und dann den Eimer weggestoßen haben. Das Seil war über den Ast geworfen und dann an dem Baum verknotet worden. Offenbar hatte Ravier sich jeden Handgriff genau überlegt und präzise Maß genommen. Merkwürdig, wie pragmatisch manche Menschen vorgehen, wenn sie sich entschieden haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen, dachte Leon.
Neben dem Eimer lag ein teurer Lederslipper, der andere Schuh befand sich noch am Fuß des Opfers. Leon fiel auf, dass die Ferse des Mannes aufgeschürft war. Die Verletzung war frischmerkwürdig. Und warum lag der Schuh am Boden? Hatte der Mann gestrampelt in den letzten Sekunden seines Lebens und deswegen einen Schuh verloren? Hatte er es sich im letzten Moment vielleicht anders überlegt, als das Blut in seinem Kopf dröhnte, die Lunge vergeblich versuchte, Sauerstoff zu atmen, und das Seil ihm langsam den Kehlkopf eindrückte? Wollte er zuletzt doch am Leben bleiben? Die Schlinge schien am Hals verrutscht zu sein. Vielleicht ein weiteres Anzeichen für einen ver zweifelten Überlebenskampf, als es längst zu spät war.
Ravier trug ein weißes Hemd, auf dem das Blut aus seiner Nase rote Flecken hinterlassen hatte. Am Boden lag ein dunkelblaues Sakko mit goldenen Knöpfen. Das angemessene Kleidungsstück für einen abendlichen Besuch im Golfclub. Wie hatte Ravier wohl die letzte Nacht verbracht?, fragte sich Leon. War er verzweifelt am Strand entlanggelaufen? Hatte er plötzlich Reue empfunden für die Grausamkeiten, die er den jungen Frauen angetan hatte? Oder war er ganz spontan an diesen Ort gefahren, wo er den Wagen seines letzten Opfers versenkt hatte? Plötzlich kam es Leon vor, als wäre ein großer Schatten über ihn hinweggehuscht, wie von einem Raubvogel. Er sah zum Himmel, aber da war nur das blasse Blau des Südens.
„Er wollte für seine Sünden büßen.“
Isabelle hatte sich neben ihn gestellt.
„Warum ausgerechnet jetzt?“, fragte Leon. „Nachdem er Jahrzehnte lang unentdeckt geblieben ist?“
„Er wusste, wie dicht wir an ihm dran waren. Er hat den
Druck nicht mehr ausgehalten.“
„Auf einmal? Ganz plötzlich? Kommt mir vor wie eine Antwort aus dem Handbuch des Küchenpsychologen.“
„Er ist tot, Leon. Er hat sich hier erhängt, und wir haben belastende Indizien gegen ihn. Das musst du doch zugeben.“
„Ja, das weiß ich auch. Ich habe eben nur so ein komisches Gefühl.“
„Du bist ein unverbesserlicher Skeptiker“, sagte Isabelle. Sie sah zum Weg, auf dem ein schwarzer Van aufgetaucht war, aus dem zwei Männer eine Bahre zogen. „Die Bestatter sind da. Ich würde ihn jetzt gerne da runternehmen und in die Rechtsmedizin bringen lassen.“
„Ja, tu das“, sagte Leon. „Ich werde ihn mir dann gleich ansehen. Zerna kann die ersten Ergebnisse am Nachmittag haben.“
74. Kapitel
Die Besprechung in der Gendarmerie nationale war auf 17 Uhr angesetzt. Am liebsten hätte Polizeichef Zerna das Meeting vorverlegt, denn er brannte darauf, mit der Meldung über die erfolgreiche Jagd nach dem Serienmörder an die Öffentlichkeit zu gehen.
Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, ISBN 9783-86493-216-8