„Er hat die Schönheit geliebt, auch die Schönheit des Moments“
Zum 100. Geburtstag von Gust Graas spricht seine älteste Tochter Kit über den Maler. In Mallorca wird der Luxemburger mit einer Ausstellung seiner Werke gewürdigt
Gust Grass wäre in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden. Geboren wurde er am 19. Dezember 1924, und nach einem erfüllten Leben ist er am 19. Februar 2020 gestorben. Er war Manager und Maler, führte und gründete Unternehmen und war eine bedeutende Stimme in der Gesellschaft. Zum Ende seines Lebens hatte er sein Maleratelier auf der spanischen Insel Mallorca. Dort sind zu seinem hundertsten Geburtstag seine Werke in dem renommierten Museu de Pollença ausgestellt. Die Vernissage ist an diesem Sonntag.
Gust Graas, Ihr berühmter Vater, wird dieses Jahr 100. Wie feiern Sie seinen Geburtstag?!
Oh, wir zelebrieren für ihn eine Messe in der Kathedrale mit dem Glockenspiel vom „Hexemeeschter“, das war sein Lieblingslied und auch das einzige, das er immer gesungen hat. Er war ja in seinem ganzen Leben ein Hexenmeister, schon in der Schule, immer der Leader. „Aus jeder Situation das Beste machen“, das war sein Prinzip. Auch später in der Armee, als er von den Deutschen eingezogen wurde und sich durchgeschlagen hat, ohne je die Nazi-Ideologie anzunehmen. Und als Jurastudent „zauberte“er bei den Jeunesses Fédéralistes, um die Europäer näher zusammenzubringen. All diese Hexenkünste halfen ihm schließlich, als er durch Zufall zu Radio Luxemburg kam – erst als Justiziar, später als Generaldirektor.
Sie sind seine älteste Tochter. Wie war er denn als Papi?
Papi war sehr verschieden zu uns dreien. Ich war die Älteste und musste mich natürlich immer behaupten. Und da ich denselben Sturkopf habe wie mein Vater, war es nicht immer einfach. Meine Schwester Jeanne ist die Diplomatin, konnte sich gut durchschlängeln und trotzdem ihren Weg gehen. Und der dritte, Marc, war der Traumjunge, auf den man gewartet hatte. Er hatte es leichter, weil er mit offenen Armen empfangen wurde, aber als Sohn mit einem solchen Vater verglichen zu werden, ist viel schwieriger. Dieses Problem hatten wir Mädchen nicht.
Dieses Jahr veröffentlichen Sie ein GustGraas-Biografie: Was hat Sie bei den Recherchen besonders überrascht?
Ich bin erschrocken, wie sehr ich meinem Vater gleiche. Ich versetze mich ja in ihn hinein, und da entdecke ich so viele Übereinstimmungen: wie hart wir arbeiten, wie viel Energie wir haben, wie wir die Menschen lieben. Wenn ich in seinem Umfeld recherchiere und nur „Gust“sage, ha, da gehen die Herzen auf. Mein Vater ist zwar nicht mehr da, aber ich lebe noch immer mit ihm. Als guter Christ hat er immer versucht, sich selbst und die Welt besser zu machen, sein Gleichgewicht zu finden. Keinen Hass zu verspüren, keine unnötige Energie in irgendetwas zu vergeuden. In ihm lebte so viel Harmonie, und die konnte er auch in seiner Malerei vermitteln.
In einem versteckten Depot lagern noch etliche Kunstschätze Ihres Vaters. Was empfinden Sie, wenn Sie seine Bilder anschauen?
Uff... ich habe alles archiviert, ich habe alles fotografiert... unwahrscheinlich viel Arbeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so kreativ sein konnte mit so vielen guten, verschiedenen Arbeiten. Jetzt, wo ich tiefer in alles einsteige, habe ich für ihn nur noch Bewunderung, wirklich.
Was für ein Doppelleben: am Tag Manager, in der Nacht Maler. Und wann hatte er Zeit für die Familie?
Unser Leben war sehr strukturiert.
Mein Vater hat mal gesagt, wenn jemand seine Arbeit nicht um 18 Uhr beenden kann oder mittags um 12, dann ist er kein guter Arbeiter. Also ging er immer um 12 aus seinem Büro, hat mit uns gegessen und dann seine Siesta gemacht. Und abends kam er um 18 Uhr nach Hause. Dann gab es Essen, und wir Kinder wurden ins Bett geschickt, sogar noch mit 18 Jahren. Dann hat er noch ein bisschen durch die Programme gezappt, um zu schauen, was man von der Konkurrenz lernen kann. Meine Mutter schlief dabei schon ein, doch er ging noch bis 1 Uhr ins Atelier. Deswegen kam er auch morgens um 7 so schwer aus dem Bett. Ein sehr striktes Leben...
Haben Sie ihn bei seiner Malerei eher gestört oder inspiriert?
Gestört haben wir ihn nie. Er war ja auch immer so konzentriert, dass er uns gar nicht bemerkt hat. Oder er fragte uns: Mit welcher Farbe soll ich jetzt anfangen? Aber nachher war davon nicht mehr viel zu sehen. Meine Mutter sagte ihm auch ehrlich: Ach diese Ecke da, die ist zu dun
kel, die muss heller werden! Und das hat mein Vater brav befolgt, er war sehr offen.
Gust Graas, der Manager, der Maler, der Mensch. Trotz seiner Machtfülle damals als RTL-Generaldirektor beschreiben ihn viele als sanft – konnte er auch laut werden?
Doch, einmal. Als ich mit ihm nicht mehr in die Kirche gehen wollte, da wurde er laut. Und geschrien hat er wohl auch einmal im Büro des Premierministers, habe ich gehört, weil es mit seinen Satellitenplänen überhaupt nicht glattlief. Da hat er sogar Türen geknallt. Das waren schwierige Jahre, die französische Regierung hat alles unternommen, um das Projekt zu torpedieren. Aber schließlich hat mein Vater in Deutschland die nötigen Frequenzen doch bekommen und konnte mit RTLplus starten. Er war dabei immer klar und fair ohne heimliche Tricks hinter dem Rücken. Zu seiner Zeit zählte noch die Kreativität, nicht das Controlling. Vieles entschied er intuitiv, nach Gefühl, heute würde man erst mal Studien und Analysen in Auftrag geben.
Aus jeder Situation das Beste machen, das war sein Prinzip.
Sein Credo war „Ich male, also bin ich“. Wer wäre er denn gewesen ohne die Malerei?
Er war auch mit der Sprache kreativ, er hat geschrieben, ganze Alben und Notizbücher – was für ein Chaos. Und er war so ein furchtbarer Witzbold, wir haben nur gelacht. Darum hatte er auch immer so viele Freunde. Warum die Malerei, habe ich erst später verstanden, als ich ihm stolz mein Buch präsentierte. Er fragte gleich, wie lange hast du daran gearbeitet? Oh, ein paar Jahre. Ha, ich arbeite einen Tag und verdiene mehr mit meinem Bild als du mit deinem Buch. Aber es ging ihm nicht ums Geld, er war auch kein guter Verkäufer.
Die Ausstellung in diesem Jahr trägt den Titel „Gust Graas POESIA“. Wie poetisch war er denn?
Mein Vater hat selber mal so formuliert: Meine Bilder öffnen ein magisches Universum voller Poesie. Voilà. Dieses Zitat steht auch auf seiner Website. Wenn „Poesia“das Tiefere im Menschen meint: Er hat die Schönheit geliebt, auch die Schönheit des Moments. Und daraus wurde immer ein Bild, praktisch ein Bild pro Tag! Zu Beginn hat er schöne Frauen gemalt, aber so schöne...
War denn seine Frau Lydia nie eifersüchtig?
O doch. Anfangs ja. Man muss wissen: Gust und Lydia haben sich sehr früh kennengelernt, er war 7, sie 5. Die Liebe fürs Leben, genauer gerechnet 79 glückliche Jahre!
Im Ausstellungskatalog wird behauptet, er habe alles bemalt, was ihm unter die Finger kam. Wirklich?
Jaja. Er bekam mal so eine Tasse geschenkt, die hat er gleich bemalt. Sehr zum Vorteil der Tasse. Wenn wir einen
Kuchen aßen, hat er den goldenen Karton bepinselt. Und was alle sehr geliebt haben: Wenn er Weihnachtsgrüße bekam, hat er drübergemalt und sie zurückgeschickt.
Gust Graas hatte zwei Leben, als Manager und Maler. Und dann noch ein drittes: als „Mallorquiner“. Wie sehr hat ihn nach seinem RTL-Leben das Mittelmeer verändert?
Papi war plötzlich ein anderer Mensch, endlich hatte er Zeit und konnte in den Tag hineinleben, eine große Befreiung. Und er fand tiefe, echte Freundschaften, denn er war ja nicht mehr der Machtmensch, von dem alle was wollten. Vor allem entdeckte er die Natur, mit all ihren Farben! Licht, Luft, Landschaft, das Mittelmeer – man sieht es auch seinen Bildern an. Papi malte und malte... und war so offen für alles. Er ging auf den Markt, Kräuter und Kartoffeln kaufen – das einfache, aber richtige Leben, und er hat es genossen!
Gust Graas und 95 so erfüllte Lebensjahre: Ihr Vater hat ja schon als kleiner Junge gemalt, auch im hohen Alter noch?
Oh ja, er hat bis zum letzten Tag gemalt. Dazu bereite ich gerade eine Ausstellung vor: „Finissage“. Irgendwann war er nicht mehr so mobil, und statt vor der Staffelei saß er auf dem Sofa. Links hatte er seine Farben, rechts sein Papier, ich musste ihm immer große Blöcke kaufen. Und wenn er mit einem Bild zufrieden war, riss er es heraus und legte es zu den anderen, das Zimmer war voll! Es gab nur noch einen schmalen Fußweg in die Küche und ins Schlafzimmer. Mein Vater hatte sich ja vorgenommen, an jedem Tag in seinem Leben ein Bild zu malen. Und das hat er auch ungefähr geschafft.
*Oliver Spiecker ist Autor, Journalist und Liedtexter. 1984 hat er das Drehbuch für den „Eurovision Song Contest“aus Luxemburg geschrieben. Er war auch Ideengeber beim damaligen RTL plus.