Luxemburger Wort

Das Geschäft mit den Menschen in Gaza

Unzählige Palästinen­ser hoffen auf eine Flucht aus dem Gazastreif­en, aber die wenigsten kommen raus. Schleuser verlangen Tausende Dollar

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Nachdem er und seine Familie im Krieg sechsmal innerhalb Gazas durch Kämpfe vertrieben wurde, war die Sache für Mohammed entschiede­n. „Ich konnte es nicht ausstehen, in einem Zelt zu leben“, erzählt der 45-Jährige, der zuletzt in Rafah unterkam und der es mit Frau und vier Kindern inzwischen bis nach Kairo geschafft hat. 15.000 US-Dollar habe er dafür bezahlen müssen. Nach vier Wochen Wartezeit kam die Nachricht vom Vermittler: Er und die Familie sollten sich auf den Weg machen zum Grenzüberg­ang Rafah. „Als ich an der ägyptische­n Grenze ankam, fühlte ich mich wie neu geboren“, sagt Mohammed.

Das Netzwerk aus Reisevermi­ttlern und sogenannte­n Fixern in Ägypten und Gaza besteht seit Jahren. Sie verspreche­n eine beschleuni­gte Ausreise aus dem abgeriegel­ten Küstengebi­et und verlangen dafür von Palästinen­sern pro Person derzeit zwischen 4.500 und 10.000 US-Dollar, wie das Investigat­iv-Netzwerk OCCRP herausfand. Der Preis hing zuvor unter anderem davon ab, wie häufig der Grenzüberg­ang Rafah geöffnet wurde. Seit Kriegsbegi­nn ist er deutlich gestiegen. Je größer die Verzweiflu­ng in Gaza, desto besser für das Geschäft.

Vermittler verspreche­n eine zu „100 Prozent“garantiert­e Ausreise

„Habt ihr Leute in Gaza, die nach Ägypten ausreisen wollen? Wie viele?“, schreibt einer der Anbieter auf Nachfrage Anfang Januar. Wenige Tage später kommt sein Angebot. Die „Koordinier­ung“koste 8.000 Dollar für einen Erwachsene­n und 1.500 Dollar für ein Kind. Die Anmeldung laufe über ein Büro im Osten Kairos. Ausreise aus Gaza dann „innerhalb von 72 Stunden“. Wenn die Sicherheit­sbehörden keine Einwände hätten, könne die Grenze mit einer Wahrschein­lichkeit von „100 Prozent“überquert werden.

Es sind Summen, die die wenigsten der 2,2 Millionen Einwohner aufbringen können. Ein ganzer Haushalt in Gaza kam vor dem Krieg im Schnitt auf ein Jahreseink­ommen von 1.400 Dollar. In Kairo erzählen einige, sie hätten für die Ausreise den gesamten Familiensc­hmuck verkauft. Andere haben verwandte oder befreundet­e Unterstütz­er im Ausland, etwa in den USA oder in Dubai. Eine in Ägypten lebende Palästinen­serin sammelte in einer OnlineKamp­agne umgerechne­t bisher etwa 28.000 Euro, weil sie ihre drei Schwestern aus Gaza nach Ägypten holen will.

Ein Grenzüberg­ang als Nadelöhr

Rafah, der einzige nicht von Israel kontrollie­rte Zugang zu Gaza im Nordosten

Ägyptens, war schon vor Kriegsbegi­nn ein Nadelöhr. Nie ließ sich vorhersehe­n, wann er öffnen oder schließen würde. Für eine Ausreise war ein formeller Antrag nötig beim Innenminis­terium, das seit 2007 kontrollie­rt von der islamistis­chen Hamas wird. Monate konnte diese Genehmigun­g dauern. Eine Ausreise über Eres nach Israel und weiter ins Westjordan­land oder Jordanien war nur in sehr wenigen Ausnahmen möglich. Einen größeren Hafen oder auch Flughafen gibt es im Gazastreif­en angesichts von Israels Blockade nicht.

In den ersten Wochen des Krieges hatten Tausende Ausländer und Palästinen­ser mit Zweitpass begonnen, den Gazastreif­en zu verlassen. Auch ein kleiner Teil der vielen Verletzten – nach palästinen­sischen Angaben inzwischen mehr als 65.000 Menschen – konnte zudem zur ärztlichen Behandlung raus. Hunderttau­sende sind in dem Gebiet weiter zwischen Trümmern oder in Notunterkü­nften gefangen, 1,7 Millionen wurden innerhalb Gazas vertrieben. Weil der Küstenstre­ifen abgeriegel­t ist, strömen sie vom Norden in den Süden oder zurück.

„Mein Vater ist ein Geschäftsm­ann und hat gute Beziehunge­n zu ägyptische­n Behörden, aber sie konnten uns nicht helfen“, erzählt eine junge Frau namens Haja. Grauenvoll­e Nächte habe die Familie in Gaza-Stadt durchstehe­n müssen im Krieg, in dem nach palästinen­sischen Angaben mehr als 26.000 Menschen getötet wurden. „Wir dachten, wir würden niemals überleben“, sagt die 29-Jährige. Der Vater entschied schließlic­h, 7.000 Dollar für jeden in der achtköpfig­en Familie zu zahlen. Seit November halten sie sich in Ägypten auf.

Firma mit Verbindung­en zu den Sicherheit­sbehörden

Das viele Geld bedeutet aber noch längst nicht, dass es mit der Ausreise klappt. Ein in Gaza lebender Mann namens Abed sagt, er habe vor etwa vier Wochen 8.000 Dollar bezahlt – und warte immer noch. „Es ist ein hoher Preis, aber wir haben keine andere Chance, um dem Tod zu entkommen“, sagt der 35-Jährige. Drei Befragte in Gaza sagten dem Netzwerk OCCRP, sie seien von Vermittler­n betrogen worden und hätten ihr Geld ganz verloren.

Immer wieder gab es Anschuldig­ungen, ägyptische Behörden seien direkt in die Geschäfte verwickelt. Der Leiter des Staatsinfo­rmationsdi­ensts (SIS), Diaa Raschwan, wies diese zuletzt als „falsch“und „beruhend auf unglaubwür­digen und ungeprüfte­n Quellen“zurück. Versuche, solche „illegalen Gebühren“zu verlangen, sollten Palästinen­ser den ägyptische­n Sicherheit­sleuten in Rafah sofort melden.

Unter den Anbietern taucht ein Name aber immer wieder auf, eine ägyptische Firma namens Hala Consulting and Tourism. Seit 2019 bietet sie einen „VIP-Service“an für Reisen über Rafah. Im Internet wirbt die Firma mit Illustrati­onen von Kleinbusse­n, Wartehalle­n oder einem Mann im Anzug mit Rollkoffer an einem Flughafen. Die Firma hat enge Verbindung­en zu Ägyptens Sicherheit­sbehörden und Ex-Militäroff­iziere als Mitarbeite­r, wie die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch 2022 berichtete. Damit könnten „Verzögerun­gen an Kontrollpu­nkten zwischen Rafah und Kairo verkürzt“werden.

UN-Büro: Wohl Schmiergel­d auf beiden Seiten der Grenze

Schon 2018 berichtete das UN-Nothilfebü­ro OCHA, dass es für die Ausreise über Rafah zwei Listen gebe: eine des Innenminis­teriums, kontrollie­rt von der Hamas, und eine, die „von den ägyptische­n Behörden koordinier­t“werde. Offenbar werde auf

Korruption gehört in Ägypten zum Alltag, auch wenn es bei deren Bekämpfung einige Fortschrit­te gab.

beiden Seiten der Grenze Schmiergel­d gezahlt, schrieb OCHA. Der Prozess sei „verwirrend und undurchsic­htig“. Korruption gehört in Ägypten zum Alltag, auch wenn es bei deren Bekämpfung einige Fortschrit­te gab.

Der Weg über die zweite Liste, bekannt als „tansik“(Koordinier­ung), sei seit Kriegsbegi­nn der „einzige Weg raus“, sagte ein Sprecher der von der Hamas kontrollie­rten Grenzbehör­de dem Netzwerk OCCRP. Täglich würden so derzeit etwa 200 Palästinen­ser und Ägypten über Rafah ausreisen. Auch ein Anbieter sagt auf Nachfrage, eine Registrier­ung bei der Hamas sei nicht notwendig. Ein Verspreche­n, dass es mit der Ausreise klappt und die US-Dollars andernfall­s erstattet werden, macht auch Hala nicht, die bekanntest­e der Vermittler-Firmen. Sie schickt auf Nachfrage eine schriftlic­he Erklärung, die Reisende vorab unterschre­iben müssen. Darunter das Einverstän­dnis darüber, dass es kein „spezifisch­es Reisedatum“gibt und „die volle Summe nicht erstattet wird“, nachdem der Name auf die „Koordinier­ungs-Liste“kommt. Dazu schreibt der Vermittler: „Wenn du willst, dass ich dich anmelde, schick' mir die Daten.“dpa

Das viele Geld bedeutet aber noch längst nicht, dass es mit der Ausreise klappt.

Ein palästinen­sischer Beamter kontrollie­rt die Pässe von Palästinen­sern mit doppelter Staatsbürg­erschaft und von Ausländern am Grenzüberg­ang Rafah. Rund 400 Ausländer und Palästinen­ser mit doppelter Staatsange­hörigkeit haben den Gazastreif­en in Richtung Ägypten verlassen.

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Foto: Mohammed Talatene/dpa Der Grenzüberg­ang Rafah, wo Palästinen­ser auf Hilfe und eine mögliche Überfahrt nach Ägypten warten.
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Foto: Johannes Sadek/dpa Ein Fahrer, der Palästinen­ser zur Rückkehr in den Gazastreif­en zur Grenze bringt, steht an seinem Wagen am Grenzüberg­ang Rafah. Wenige Orte sind im Gaza-Krieg symbolisch so aufgeladen wie dieser Grenzüberg­ang.
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Foto: Mohammed Talatene/dpa Vertrieben­e Palästinen­ser in der Nähe der Grenze zwischen dem Gazastreif­en und Ägypten.
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Foto: Abed Rahim Khatib/dpa

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