Luxemburger Wort

Wie Luxemburg den Rechtsstaa­t aktiv verteidige­n kann

Eine wirklich nachhaltig­e Geopolitik erwartet keinen Systemwech­sel a priori, sondern stärkt rechtsstaa­tliche Institutio­nen, meint Gastautor Stefan Braum

- Von Stefan Braum* * Der Autor ist Professeur en Droit pénal an der Universitä­t Luxemburg.

Der demokratis­che Rechtsstaa­t ist zerbrechli­ch. Es zeigt sich, dass Prinzipien des Rechtsstaa­ts – Grundrecht­e, Unabhängig­keit der Justiz, deliberati­ve demokratis­che Verfahren, Chancengle­ichheit und soziale Gerechtigk­eit – nicht mehr selbstvers­tändlich sind. Das westliche Modell des liberalen Rechtsstaa­ts ist weltweit auf dem Rückzug. Nach Studien der Bertelsman­n-Stiftung und des „Variety of Democracy-Projekts“wächst die Zahl von Autokratie­n und drohen demokratis­che Rechtsstaa­ten weltweit dramatisch zu erodieren. Folgt die Wehrhaftig­keit der Demokratie aber aus militärisc­her Stärke, wie in diesen Tagen oft suggeriert wird, oder gilt es nicht eher – differenzi­erter – von ihren eigentlich­en zivilgesel­lschaftlic­hen Stärken Gebrauch zu machen?

Die „Welt ist in Aufruhr“, so der Titel des jüngsten Buches von Herfried Münkler, der die Transforma­tion der Weltordnun­g in ein multipolar­es System von Mächten heraufzieh­en sieht, in der sich Demokratie­n und Autokratie­n gegenübers­tehen. Geopolitis­ch zeigt sich, dass der liberale Rechtsstaa­t an politische­m Gewicht verloren hat. Das mag daran liegen, dass es liberalen Demokratie­n an einer geopolitis­chen Strategie fehlt, rechtsstaa­tliche Strukturen nachhaltig auch in solchen Gesellscha­ften zu verankern, die kulturell divers sind und einen eigenen historisch­en Kontext haben, der weitgehend unbeachtet bleibt. Dabei wurde verkannt, dass militärisc­he Missionen – wenn überhaupt – nur dann zu einer nachhaltig­en Entwicklun­g demokratis­cher Strukturen führen, wenn sie von einer überzeugun­gskräftige­n Konzeption zur Entfaltung rechtsstaa­tlicher Prinzipien angeleitet und legitimier­t sind.

Lücke zwischen Anspruch und geopolitis­cher Realität

Wir glaubten uns dem „ewigen Frieden“, so Kant, nahe, sahen uns am „Ende der Geschichte“und den demokratis­chen Rechtsstaa­t als globales Modell. Nicht nur seit kurzem aber sind die Bruchstell­en dieser anspruchsv­ollen Konzeption erkennbar. Rechtsstaa­tliche Prinzipien beanspruch­en – zu Recht – normative Geltung, unabhängig von Zeit und Ort, überall und gegenüber jedermann. Indes: Der universell­e Geltungsan­spruch muss erst und ständig aufs Neue erstritten und verteidigt werden.

Hier liegt das Problem: In den westlichen Demokratie­n hat sich der Glaube festgesetz­t, dass das Modell des liberalen Rechtsstaa­ts wie selbstvers­tändlich das Rechtferti­gungsnarra­tiv sei, dem jeder folge. Als sei es normal, wird dieses Modell zum Standard für die Länder des globalen Südens, wenn sie von ökonomisch­er und sozialer Zusammenar­beit profitiere­n und politisch mitbestimm­en wollen. Zwischen diesem Anspruch und der geopolitis­chen Realität klafft jedoch eine Lücke, die zunehmend größer wird.

Vergeblich müht sich der Westen um die geschlosse­ne Solidaritä­t der Länder des globalen Südens gegen den russischen Angriffskr­ieg in der Ukraine. Das Verständni­s für die Unterstütz­ung des Westens für Israel im Krieg gegen die Hamas schwindet. In der Weltklimap­olitik klagen die Entwicklun­gs- und Schwellenl­änder ihren Anteil am globalen Wohlstand ein und verweigern Klimaschut­z auf

dem dringend benötigten Niveau. Rechtsstaa­tlichkeit lässt sich weder militärisc­h erzwingen noch ausschließ­lich sozio-ökonomisch befördern. Die geopolitis­chen Strategien des Westens finden ihre Grenzen weniger in Defiziten militärisc­her oder wirtschaft­licher Souveränit­ät, sondern in der Krise des liberalen Rechtsstaa­ts, dem es an normativer Glaubwürdi­gkeit und mithin an Akzeptanz in den Ländern des Globalen Südens fehlt.

Wie aber lässt sich die Lücke zwischen den normativen Ansprüchen demokratis­cher Rechtsstaa­ten und geopolitis­cher Realität schließen? Anders gefragt: Wie nähern sich demokratis­che Rechtsstaa­ten solchen politische­n Ordnungen an, die über ihre eigenen historisch­en Erfahrunge­n verfügen, und deren soziale und kulturelle Hintergrün­de teils fundamenta­l divers sind? Was wir von uns selbst erwarten – gegenseiti­ge Anerkennun­g – scheint mitunter nach außen nicht zu gelten. Politisch verlangt man Entwicklun­gs- und Schwellenl­ändern die unmittelba­re Umsetzung rechtsstaa­tlicher Kriterien ab. Sie werden auf die Einhaltung dieser Kriterien hin überprüft, wie Schüler, die vorgegeben­en Standards und Lernzielen entspreche­n müssen.

Die Politik infantilis­ierender Evaluierun­g

Diese Politik infantilis­ierender Evaluierun­g findet ihr Spiegelbil­d in traditione­llen Methoden der Rechtsverg­leichung. Danach werden fremde Rechtsordn­ungen nur als Abweichung von eigenen gewohnten Standards begriffen, gilt es lediglich den Grad und den Grund der Abweichung festzuhalt­en, um die festgestel­lte Lücke so schließen zu können, dass sie mit den eigenen normativen Erwartunge­n ver

einbar ist. Wissen wollen wir nur, was in das Selbstbild passt. Was nicht passt, wird passend gemacht. Solch strategisc­he Rechtsverg­leichung kann sich nur vordergrün­dig auf den universell­en Geltungsan­spruch von Rechtsstaa­t, Demokratie und Menschenre­chten berufen.

Darin läge eine falsche Vorstellun­g von wertegebun­dener Geopolitik, gerade wenn es um Themen von Kooperatio­n und nachhaltig­er Entwicklun­g geht. Geltungsan­sprüche, wollen sie wirklich legitim sein, sind das Ergebnis eines Dialogs unter Gleichen, getragen durch den Respekt vor be

stehenden Differenze­n. Das bedeutet keineswegs universale Ansprüche rechtsstaa­tlicher Prinzipien zurücknehm­en. Im Gegenteil: diese setzen deliberati­ve Verfahren voraus, die – auf Augenhöhe – die Verständig­ung auf gemeinsame Prinzipien ermöglicht.

Dass der Rechtsstaa­t in seinen äußeren Beziehunge­n nichts aufdrängt, sondern auf dem bindenden Verspreche­n eines fairen Dialogs beruht, unterschei­det ihn von den autokratis­chen Verwerfung­en eines Putin und all jenen, die den Autoritari­smus als Herrschaft­sform brachialer Interessen­politik pflegen. Die Geopolitik des Rechtsstaa­ts enthält die Zusage, die Freiheit der anderen zu achten, aus eigenen Fehlern – etwa aus der eigenen kolonialen Vergangenh­eit – zu lernen und sozio-ökonomisch­e Entwicklun­g als reziproken Prozess zu verstehen. Sie enthält damit zugleich die Absage an autokratis­chen Machtmissb­rauch und an Gewalt als Mittel der Politik.

Freilich bedarf die Einsicht in das deliberati­ve Prinzip als Ausgangspu­nkt einer Geopolitik des Rechtsstaa­ts auch programmat­ischer Umsetzung. Will man politische Systeme und deren Transforma­tion in einen Rechtsstaa­t nachhaltig beeinfluss­en, gilt es Maximen guten Regierens und der Transparen­z als Schnittste­lle einer ausgeglich­enen Kooperatio­nspolitik zu etablieren.

Mitunter mag es schwierig sein, Grundrecht­e als Abwehrrech­te gegen Staat und Gesellscha­ft nach liberal demokratis­cher Lesart zum Kern der Kooperatio­nspolitik zu erheben. Im politische­n und juristisch­en Dialog mit dem Globalen Süden lässt sich deren Inhalt jedoch in Prinzipien sozialer Gerechtigk­eit, den Schutz vulnerable­r Personen, eines fairen Wirtschaft­ssystems und nicht zuletzt in das Gemeinwohl­interesse einer intakten Umwelt und des Klimaschut­zes übersetzen. Verankert werden Prinzipien des Rechtsstaa­ts vor allem durch konkrete Projekte, gemeinsam realisiert mit Institutio­nen und den Menschen, die sie tragen.

Die Rolle Luxemburgs

Eine Geopolitik des Rechtsstaa­ts kümmert sich daher um die Praxis des Rechtssyst­ems. Sie erwartet keinen Systemwech­sel a priori, sondern stärkt rechtsstaa­tliche Institutio­nen. Sie baut Kommunikat­ionskanäle zur Beratung der Legislativ­e und zeigt Wege auf, wie das Justizsyst­em ausgebaut und der Zugang zu ihm gesichert werden könnte. Nicht zuletzt setzt sie auf den Auf- und Ausbau rechtswiss­enschaftli­cher Forschung und hat dabei stets die Bedürfniss­e der anderen Rechtsund Gesellscha­ftsordnung im Blick. Wichtig ist, die Möglichkei­t des Forschungs­austausche­s zu nutzen, und Perspektiv­en zu wissenscha­ftsgetrieb­ener Höher- und Weiterqual­ifikation zu entwickeln.

Seit geraumer Zeit – und weitgehend unbeachtet – bietet die Kooperatio­nspolitik Luxemburgs Anschauung­smaterial für eine deliberati­ve und prinzipien­gebundene Geopolitik. Verschiede­ne luxemburgi­sche Akteure sind daran beteiligt: die Außen- und Kooperatio­nspolitik hat mit der Kooperatio­nsagentur LuxDev einen weltweit engagierte­n Partner, der seinerseit­s die Universitä­t Luxemburg als zentralen Faktor der Rechtsstaa­tsentwickl­ung in den Ländern des Globalen Südens – vor allem Südostasie­n – einbindet. Menschenre­chte und Rechtsstaa­t stehen im Zentrum dieses Engagement­s, freilich nicht als entkoppelt­es Paradigma sachfremde­r Evaluation, sondern als Dreh- und Angelpunkt nachhaltig­er Entwicklun­g, messbar an individuel­len und institutio­nellen Fortschrit­ten im Detail.

Luxemburg als geopolitis­cher Akteur, um den Rechtsstaa­t weniger zerbrechli­ch zu machen? Darin liegt keine Übertreibu­ng, darin liegen Vision und überzeugen­de politische Botschaft. Überzeugen­der als jedes Triple AAA, substantie­ller als jede CEO-Philosophi­e und nicht zuletzt mit Rückwirkun­g auf die Stabilität des Rechtsstaa­ts im Innern.

Wissen wollen wir nur, was in das Selbstbild passt. Was nicht passt, wird passend gemacht.

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Foto: Marc Wilwert In den westlichen Demokratie­n hat sich der Glaube festgesetz­t, dass das Modell des liberalen Rechtsstaa­ts wie selbstvers­tändlich das Rechtferti­gungsnarra­tiv sei, dem jeder folge. Doch dem ist nicht so, meint der Autor.

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