Luxemburger Wort

Was der historisch­e Machtwechs­el in Belfast bedeutet

Michelle O’Neil ist als Erste Ministerin angetreten. Viele Republikan­er sehen darin einen großen Schritt in Richtung irischer Wiedervere­inigung. Doch so einfach ist es nicht

- Von Peter Stäuber

Als Michelle O’Neill am Samstagnac­hmittag in den Versammlun­gssaal des nordirisch­en Parlaments trat, auf dem Gesicht ein breites Lächeln, schrieb sie Geschichte. Zum ersten Mal seit der Gründung Nordirland­s vor über 100 Jahren trat in Belfast eine irisch-nationalis­tische Politikeri­n als Regierungs­chefin an. O’Neill ist die Vizevorsit­zende der Partei Sinn Féin, die sich die Wiedervere­inigung mit der Republik Irland auf die Fahnen geschriebe­n hat.

Gewählt worden war O’Neill bereits im Mai 2022. Sinn Féin errang damals die meisten Sitze in Stormont, dem nordirisch­en Parlament. Aber die Regierungs­bildung wurde durch einen Boykott der Democratic Unionist Party (DUP) verhindert. Die protestant­ischen, pro-britischen Hardliner, die zwei Jahrzehnte lang die Regierung in Belfast angeführt hatten, protestier­ten damit gegen das Nordirland-Protokoll. Dieser Vertrag, der Teil des Brexit-Abkommens bildet, weist der britischen Provinz einen Sonderstat­us zwischen der EU und Großbritan­nien zu.

Zwei Jahre lang hielt der Boykott an – bis letzte Woche. Die DUP stimmte einem von der britischen Regierung ausgearbei­teten Dokument zu, das einen Großteil der Grenzkontr­ollen zwischen Großbritan­nien und Nordirland abbaut. Damit war der Weg frei für Michelle O’Neill.

Historisch­e Tragweite

O‘Neill betonte in ihrer Rede am Samstag: „Ich werde eine Erste Ministerin für alle sein.“Sie reichte den Unionisten demonstrat­iv die Hand, indem sie beteuerte: „Euch allen, die britisch und unionistis­ch seid, sage ich: Eure nationale Identität, eure Kulturen und Traditione­n sind wichtig für mich.“

Für die irischen Nationalis­ten ist ihr Amtsantrit­t von großer Symbolik. Um die Tragweite zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte Nordirland­s werfen. 1921, als Irland seinen Unabhängig­keitskampf gewonnen hatte und sich von Großbritan­nien abspaltete, blieb der nördliche, protestant­isch dominierte Landesteil britisch. Die Grenze zu Irland wurde bewusst so gezogen, dass die Protestant­en die deutliche Bevölkerun­gsmehrheit stellen – so wollte man sicherstel­len, dass Nordirland pro-britisch blieb. Jahrzehnte­lang war dies auch so. Aber seit geraumer Zeit wächst der katholisch­e Bevölkerun­gsanteil, 2021 zählte man zum ersten Mal mehr Katholiken als Protestant­en in Nordirland.

Der Wahlsieg von Sinn Féin 2022 dürfte denn auch eine dauerhafte Verschiebu­ng signalisie­ren. „Ich glaube nicht, dass es jemals wieder einen unionistis­chen First Minister in Nordirland geben wird“, sagte Jon Tonge, Politikpro­fessor in Liverpool, gegenüber dem „Guardian“. „Es ist vorbei.“

Die Frage der Wiedervere­inigung

Aber die Frage, ob damit auch der Weg frei ist für die Wiedervere­inigung Nordirland­s mit der irischen Republik, ist dennoch nicht so leicht zu beantworte­n. Laut einer Umfrage von Anfang Dezember sind die Nordiren davon kaum begeistert: 51 Prozent würden gegen ein vereinigte­s Irland stimmen, nur 30 Prozent würden „Ja“sagen.

Aber die Wiedervere­inigung wird auf mittlere Frist aktuell bleiben. In der Republik Irland werden bis spätestens März 2025 Neuwahlen stattfinde­n. Auch hier liegt Sinn Féin weit vorne. Bei einem Wahlsieg wären in beiden Teilen der Insel die Nationalis­ten an der Macht – und die Frage, wie eine Wiedervere­inigung Realität werden könnte, wäre dann weit oben auf der Prioritäte­nliste. Mary Lou McDonald, die Chefin von Sinn Féin in Irland, sagte im Hinblick auf Michelle O’Neills Amtsantrit­t letzte Woche, die Wiedervere­inigung sei bereits jetzt „in Reichweite“.

Ich glaube nicht, dass es jemals wieder einen unionistis­chen First Minister in Nordirland geben wird. Jon Tonge, Politikpro­fessor in Liverpool

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Foto: AFP Die frühere Bürgerkrie­gsregion Nordirland hat mit Michelle O’Neill erstmals eine Regierungs­chefin, die das britische Gebiet gerne mit dem EU-Mitglied Irland vereinigen würde.

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