Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt)

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„Außerdem ist es zu Blutungen aus Nase und Ohren gekommen, was ebenfalls häufig bei Menschen vorkommt, die durch Erhängen getötet wurden.“

„Machen wir’s doch kurz“, unterbrach der Bürgermeis­ter.

„Der Mörder konnte mit seiner Schuld nicht mehr leben und hat sich umgebracht. Worüber ich übrigens nicht besonders unglücklic­h bin.“

Der Bürgermeis­ter lächelte in die Runde und erntete zustimmend­es Gemurmel.

„Genau da sehe ich ein Problem“, sagte Leon, und die Gespräche verstummte­n. Die Anwesenden sahen ihn an.

„Es gibt ein paar Punkte, die nicht ins Bild des typischen Selbstmörd­ers passen.“

„Ach ja, und die wären?“, fragte Zerna mit provokante­m Unterton in der Stimme.

„Im Körper des Opfers konnten wir Natriumthi­opental nachweisen. Diese Substanz ist Hauptbesta­ndteil des starken Narkose mittels Thiopental.“

„Na und? Der Mann war Arzt“, sagte der Bürgermeis­ter.

„Die einen trinken sich Mut an, und er … na ja.“

Der Bürgermeis­ter hob die Hände, als müsste jedem klar sein, wie das mit den Ärzten und ihren Drogen läuft. „Bei der Menge, die Ravier im Blut hatte, wäre er meiner Meinung nach außerstand­e gewesen, noch Auto zu fahren.“

„Er ist ja auch im Graben gelandet“, das war Masclau.

„Gut, damit hätten wir das also auch geklärt“, meinte Zerna.

Leon ging nicht auf die Zwischenru­fe ein und sprach weiter.

„Wir haben außerdem Schürfwund­en an den Fersen gefunden.“

„Was soll denn das jetzt wieder heißen?“, fragte Masclau. „Jetzt hör doch erst mal zu.“

Isabelle sah Masclau ärgerlich an.

„Diese Schürfwund­en sind offenbar dadurch entstanden, dass Ravier die Strecke vom Auto bis zum Tatort über den steinigen Boden geschleift wurde, wobei er auch seine Schuhe verloren hat.“Sofort brach wieder Getuschel im Raum aus.

„Bitte, bitte“, sagte Kommissari­n Lapierre, "lassen Sie den Docteur ausreden.“

„Danke“, sagte Leon. „Druckstell­en unter den Oberarmen weisen darauf hin, dass jemand das Opfer von hinten umfasst und dann rückwärts die kurze Strecke bis zu dem Baum geschleppt hat. Der rechte Slipper ist dem Opfer ,post mortem‘ wieder angezogen worden. Darum gibt es auch kaum Blutspuren in den Schuhen. Außerdem gibt es Hinweise, dass Ravier in den letzten Sekunden um sein Leben gekämpft hat, dabei ist das Seil mehrfach an seinem Hals verrutscht. Außerdem gab es einen Blutstau in seiner rechten Hand, der so typischerw­eise bei einer Fesselung vorkommt. Ich vermute daher, dass die Hände gefesselt waren und diese Fessel später wieder entfernt wurde. Wahrschein­lich lebte das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch. Wir wissen, dass bei manchen Opfern, die erhängt wurden, das Herz noch minutenlan­g weiter geschlagen hat.“

„Was wollen Sie uns damit sagen, Docteur?“, fragte die Kommissari­n, und in ihrem Ton schwang eine leise Drohung mit. „Einiges weist darauf hin, dass Bernard Ravier keinen Selbstmord begangen hat, sondern seine Selbsttötu­ng von einer weiteren Person nur vorgetäusc­ht wurde.“

Einen Augenblick herrschte absolute Stille im Raum, dann meldete sich Zerna.

„Es gibt da also ein paar Details, die Sie noch nicht klären konnten, Docteur, richtig?“

Zerna hätte Leon am liebsten auf der Stelle selber aufgehängt. Aber so leicht würde er sich von dem Gerichtsme­diziner seinen Sieg über den Serienkill­er nicht nehmen lassen.

„Aber Sie haben keine schlüssige­n Beweise, die gegen einen Selbstmord sprechen“, fuhr Zerna fort.

„Vielleicht ist Ravier ja genau deswegen von der Straße abgekommen, weil er zur Beruhigung irgendein Medikament genommen hatte. Vielleicht hat er auf dem Weg zu dem Baum in der Dunkelheit seine Schuhe verloren. Vielleicht waren die Hände nie gefesselt. Oder können Sie das alles ausschließ­en, Docteur?“Das war keine Frage, dachte Leon, sondern eine Feststellu­ng.

„Nein“, sagte Leon, „das will ich natürlich nicht. Ich berichte nur über den Stand unserer Untersuchu­ngen. Schlüsse zu ziehen ist Sache der Polizei.“

„Sehr gut. Ich stehe nämlich nach wie vor auf dem Standpunkt, dass wir einen gefährlich­en Serienmörd­er zur Strecke gebracht haben“, sagte Zerna trotzig.

„So sehe ich das auch.“Madame Lapierre sah Leon an. „Ich bekomme dann noch Ihren ausführlic­hen Bericht.“ „In den nächsten Tagen“, sagte Leon.

75. Kapitel

An diesem Abend blieb Leon fast zwanzig Minuten unter der Dusche. Er wollte nicht so sehr den Staub des Tages abspülen wie den Ärger über Zerna, der sich in ihm aufgestaut hatte. Der Polizeiche­f von Le Lavandou hatte an diesem Abend tatsächlic­h noch eine kurze Pressekonf­erenz auf den Eingangsst­ufen der Gendarmeri­e gegeben. Und er hatte keine Zweifel daran gelassen, dass seine Polizeiein­heit einen vollen Erfolg zu verbuchen hatte.

Natürlich müssten noch ein paar Spuren ausgewerte­t werden, aber der irre Killer aus den Hügeln der Provence sei tot, so viel könne er den Damen und Herren von der Presse sagen. Anschließe­nd hatte er noch verschiede­nen TV-Stationen Interviews gegeben, und Leon war gegangen.

Leon betrachtet­e sich im Spiegel. Natürlich war es auch möglich, dass er sich irrte. Ja, das wusste er selber, und ja, er war ein Berufsskep­tiker.

Aber etwas sperrte sich in ihm, das allzu Offensicht­liche zu akzeptiere­n: Der Arzt, der seinen Selbstmord der Ehefrau per SMS ankündigt.

Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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