Luxemburger Wort

Was hinter dem Machtkampf in Kiew steckt

Wolodymyr Selenskyj steht vor einem Dilemma: Er will den populären Oberkomman­dierenden Walerij Saluschnyj entlassen, obwohl es dafür militärisc­h keine Gründe gibt

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Auch Generalsta­bschef Serhij Schaptala dürfte seinen Posten verlieren. Wie ein anonymer Kiewer Topbeamter am Montag dem Portal „Ukrainska Prawda“sagte, soll er das Schicksal Walerij Saluschnyj­s, des Oberbefehl­shaber der ukrainisch­en Streitkräf­te, teilen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte schon am Vortag auf die Frage eines Journalist­en des italienisc­hen TVKanals Rai 1 nach der Entlassung Saluschnyj­s von einem umfassende­n personelle­n „Neustart“geredet: Damit meine er den Austausch einer Reihe staatliche­r Führer, nicht nur im militärisc­hen Sektor. Aber vor allem meinte er wohl einen Neustart ohne Saluschnyj.

Dessen Entlassung gilt als beschlosse­ne Sache. Schon vergangene­n Montag vermeldete­n Telegramka­näle, die dem Präsidialb­üro nahe stehen, der Präsident habe seinen Generaliss­imus in einem persönlich­en Gespräch gebeten, seinen Abschied zu nehmen. Der bestätigte die Trennung laut „Times“hinterher gegenüber seinen Stellvertr­etern: „Ich packe meine Sachen.“

Kurz darauf dementiert­en Präsidente­nberater Michajlo Podoljak und Sicherheit­sratssekre­tär Oleksiy Danilow die Verabschie­dung des Oberkomman­dierenden. Insider halten dessen offizielle Kündigung ebenso wie die Entlassung seines Stabschefs trotzdem nur für eine Frage von wenigen Wochen, wenn nicht Tagen. „Das kann alles noch diese Woche passieren“, sagte ein anderer Spitzenfun­ktionär der „Ukrainska Prawda“.

Kritik von westlichen Verbündete­n

Aber Saluschnyj­s Rauswurf ist schon jetzt heftig umstritten. Nach Angaben westlicher und ukrainisch­er Medien weigerte sich der populäre General, selbst ein Rücktritts­gesuch zu unterschre­iben. Er konterte wenige Tage später sogar mit einem programmat­ischen Artikel. Darin forderte er vor allem die Entwicklun­g und den Masseneins­atz von Hightech-Drohnen, um die Luftaufklä­rung für die eigene Artillerie zu perfektion­ieren und einen unvorteilh­aften Stellungsk­rieg gegen die russische Übermacht zu vermeiden. Ganz nebenher kritisiert­e er die Staatsführ­ung, thematisie­rte etwa Probleme bei der Munitionsh­erstellung „wegen Unzulängli­chkeiten der Gesetzgebu­ng“.

Und Kyrylo Budanow, Chef des Militärgeh­eimdiensts GUR, sowie Generalobe­rst Oleksandr

Syrskyj, Kommandeur der Landstreit­kräfte, die Selenskyj laut Medienberi­chten als Nachfolger favorisier­t, sollen alle Angebote zunächst abgelehnt haben. „Jeder neue Oberkomman­dierende wird automatisc­h mit dem megapopulä­ren Saluschnyj verglichen“, schreibt die BBC. „Für Hunderttau­sende Soldaten wird Walerij Saluschnyj ein Mann sein, der wegen seiner eigenen Meinung entlassen worden ist“, bloggt der Kriegsdien­st leistende Journalist Pawel Kaserin. „Jeder, der ihn ersetzt, wird als gehorsames Instrument in den Händen der Politiker da stehen.“

Nach Angaben der „Financial Times“sollen hinter den Kulissen auch Selenskyjs westliche Partner gegen Saluschnyj­s Entlassung Front gemacht haben, unter anderem London und Washington. Auch weil Saluschnyj im Gegensatz zu Selenskyj die Meinung westlicher Militärs teilt, zurzeit sei strategisc­he Defensive angesagt.

Bei Volk und Truppe in der Ukraine gilt der vierschröt­ige Saluschnyj als hochkompet­enter bis gerissener, aber immer realistisc­her Chefstrate­ge. Einer, der seine Männer nicht verheizt. Bei einer Umfrage des Kiewer Meinungsfo­rschungsin­stituts KIIS im Dezember waren nur zwei Prozent der Ukrainer für seine Entlassung, 70 Prozent dagegen.

Derzeit populärer als Selenskyj

Aber gerade die Umfragewer­te könnten Saluschnyj zum Verhängnis geworden sein. Laut KIIS vertrauen 62 Prozent Selenskyj, 88 Prozent aber Saluschnyj. Obwohl Saluschnyj nie politische Ambitionen äußerte und das Kriegsrech­t in absehbarer Zukunft keine Präsidents­chaftswahl­en zulässt, ballt sich nach Ansicht von Experten in Selenskyjs Umgebung die Eifersucht.

„Im Präsidialb­üro betrachtet man Saluschnyj als große politische Bedrohung“, sagt der Kiewer Politologe Ihor Rejterowit­sch. Militärisc­h sei Saluschnyj nichts vorzuwerfe­n, er hole immer das Optimale aus der militärisc­hen Lage heraus. Aber seine Popularitä­tsrate nähmen Selenskyjs engste Vertraute schon jetzt als Gefahr für dessen Wiederwahl nach Kriegsende wahr. „Die Meldungen über Saluschnyj­s Entlassung stammen von Telegramka­nälen, hinter denen Leute Andrij Jermaks, Selenskyjs Stabschef, stehen“, so Rejterowit­sch. Einerseits provoziert­e der Lärm auch den westlichen Einspruch gegen die sinnlose Entlassung. Anderersei­ts zwang er Selenskyj in das Dilemma, die Fehlentsch­eidung über kurz oder lang durchzuzie­hen, um nicht als Schwächlin­g dazustehen. Rejterowit­sch: „Jermak und Co. haben Selenskyjs Position geschwächt, um seine Abhängigke­it von ihnen zu erhöhen.“Künftig müsse Selenskyj auch noch die Verantwort­ung für die Frontlage tragen.

Für Hunderttau­sende Soldaten wird Walerij Saluschnyj ein Mann sein, der wegen seiner eigenen Meinung entlassen worden ist. Pawel Kaserin, Kriegsdien­st leistender Journalist

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg