Was hinter dem Machtkampf in Kiew steckt
Wolodymyr Selenskyj steht vor einem Dilemma: Er will den populären Oberkommandierenden Walerij Saluschnyj entlassen, obwohl es dafür militärisch keine Gründe gibt
Auch Generalstabschef Serhij Schaptala dürfte seinen Posten verlieren. Wie ein anonymer Kiewer Topbeamter am Montag dem Portal „Ukrainska Prawda“sagte, soll er das Schicksal Walerij Saluschnyjs, des Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, teilen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte schon am Vortag auf die Frage eines Journalisten des italienischen TVKanals Rai 1 nach der Entlassung Saluschnyjs von einem umfassenden personellen „Neustart“geredet: Damit meine er den Austausch einer Reihe staatlicher Führer, nicht nur im militärischen Sektor. Aber vor allem meinte er wohl einen Neustart ohne Saluschnyj.
Dessen Entlassung gilt als beschlossene Sache. Schon vergangenen Montag vermeldeten Telegramkanäle, die dem Präsidialbüro nahe stehen, der Präsident habe seinen Generalissimus in einem persönlichen Gespräch gebeten, seinen Abschied zu nehmen. Der bestätigte die Trennung laut „Times“hinterher gegenüber seinen Stellvertretern: „Ich packe meine Sachen.“
Kurz darauf dementierten Präsidentenberater Michajlo Podoljak und Sicherheitsratssekretär Oleksiy Danilow die Verabschiedung des Oberkommandierenden. Insider halten dessen offizielle Kündigung ebenso wie die Entlassung seines Stabschefs trotzdem nur für eine Frage von wenigen Wochen, wenn nicht Tagen. „Das kann alles noch diese Woche passieren“, sagte ein anderer Spitzenfunktionär der „Ukrainska Prawda“.
Kritik von westlichen Verbündeten
Aber Saluschnyjs Rauswurf ist schon jetzt heftig umstritten. Nach Angaben westlicher und ukrainischer Medien weigerte sich der populäre General, selbst ein Rücktrittsgesuch zu unterschreiben. Er konterte wenige Tage später sogar mit einem programmatischen Artikel. Darin forderte er vor allem die Entwicklung und den Masseneinsatz von Hightech-Drohnen, um die Luftaufklärung für die eigene Artillerie zu perfektionieren und einen unvorteilhaften Stellungskrieg gegen die russische Übermacht zu vermeiden. Ganz nebenher kritisierte er die Staatsführung, thematisierte etwa Probleme bei der Munitionsherstellung „wegen Unzulänglichkeiten der Gesetzgebung“.
Und Kyrylo Budanow, Chef des Militärgeheimdiensts GUR, sowie Generaloberst Oleksandr
Syrskyj, Kommandeur der Landstreitkräfte, die Selenskyj laut Medienberichten als Nachfolger favorisiert, sollen alle Angebote zunächst abgelehnt haben. „Jeder neue Oberkommandierende wird automatisch mit dem megapopulären Saluschnyj verglichen“, schreibt die BBC. „Für Hunderttausende Soldaten wird Walerij Saluschnyj ein Mann sein, der wegen seiner eigenen Meinung entlassen worden ist“, bloggt der Kriegsdienst leistende Journalist Pawel Kaserin. „Jeder, der ihn ersetzt, wird als gehorsames Instrument in den Händen der Politiker da stehen.“
Nach Angaben der „Financial Times“sollen hinter den Kulissen auch Selenskyjs westliche Partner gegen Saluschnyjs Entlassung Front gemacht haben, unter anderem London und Washington. Auch weil Saluschnyj im Gegensatz zu Selenskyj die Meinung westlicher Militärs teilt, zurzeit sei strategische Defensive angesagt.
Bei Volk und Truppe in der Ukraine gilt der vierschrötige Saluschnyj als hochkompetenter bis gerissener, aber immer realistischer Chefstratege. Einer, der seine Männer nicht verheizt. Bei einer Umfrage des Kiewer Meinungsforschungsinstituts KIIS im Dezember waren nur zwei Prozent der Ukrainer für seine Entlassung, 70 Prozent dagegen.
Derzeit populärer als Selenskyj
Aber gerade die Umfragewerte könnten Saluschnyj zum Verhängnis geworden sein. Laut KIIS vertrauen 62 Prozent Selenskyj, 88 Prozent aber Saluschnyj. Obwohl Saluschnyj nie politische Ambitionen äußerte und das Kriegsrecht in absehbarer Zukunft keine Präsidentschaftswahlen zulässt, ballt sich nach Ansicht von Experten in Selenskyjs Umgebung die Eifersucht.
„Im Präsidialbüro betrachtet man Saluschnyj als große politische Bedrohung“, sagt der Kiewer Politologe Ihor Rejterowitsch. Militärisch sei Saluschnyj nichts vorzuwerfen, er hole immer das Optimale aus der militärischen Lage heraus. Aber seine Popularitätsrate nähmen Selenskyjs engste Vertraute schon jetzt als Gefahr für dessen Wiederwahl nach Kriegsende wahr. „Die Meldungen über Saluschnyjs Entlassung stammen von Telegramkanälen, hinter denen Leute Andrij Jermaks, Selenskyjs Stabschef, stehen“, so Rejterowitsch. Einerseits provozierte der Lärm auch den westlichen Einspruch gegen die sinnlose Entlassung. Andererseits zwang er Selenskyj in das Dilemma, die Fehlentscheidung über kurz oder lang durchzuziehen, um nicht als Schwächling dazustehen. Rejterowitsch: „Jermak und Co. haben Selenskyjs Position geschwächt, um seine Abhängigkeit von ihnen zu erhöhen.“Künftig müsse Selenskyj auch noch die Verantwortung für die Frontlage tragen.
Für Hunderttausende Soldaten wird Walerij Saluschnyj ein Mann sein, der wegen seiner eigenen Meinung entlassen worden ist. Pawel Kaserin, Kriegsdienst leistender Journalist