Luxemburger Wort

„Wir helfen unseren Kindern zu vergessen, was an dem Tag passiert ist“

Ein Jahr nach der verheerend­en Erdbebense­rie in der Südosttürk­ei und Syrien leben immer noch Hunderttau­sende in Lagern. Schon wird in der Region vor neuen Beben gewarnt

- Von Gerd Höhler

Die Rönesans Rezidans war eine der besten Adressen in Antakya, der Hauptstadt der südosttürk­ischen Provinz Hatay. „Ihre Ecke im Paradies“, so warben die Immobilien­entwickler für die Luxusapart­ments am Inönü-Bulvari. Wer sich eine der 249 Eigentumsw­ohnungen leisten konnte, hatte es zu etwas gebracht. Als am frühen Morgen des 6. Februar 2023 in Antakya die Erde bebte, verwandelt­e sich die Rönesans Rezidans jedoch in eine Todesfalle. Binnen Sekunden kippte der zwölfstöck­ige Wohnblock um. Mindestens 800 Menschen wurden unter den Trümmern begraben. 53 Bewohner konnten lebend gerettet werden. 54 Opfer werden bis heute vermisst.

Zwei von ihnen sind die 32-jährige Meryem Özgür und ihre Tochter Esila. Seit einem Jahr sucht Bulut Özgür verzweifel­t nach Spuren seiner Frau und seiner Tochter. „Wir wollen, dass die Regierung weiter nach den Vermissten sucht“, sagt Bulut Özgür. Eine Woche nach dem Beben beendeten die Retter die Suche nach Verschütte­ten. Die Trümmer wurden weggebagge­rt. Suna Öztürk vermisst ihre Tochter Tugba Kosar und ihre Enkelkinde­r. Der dreijährig­e Mustafa Kemal und der ein Jahr alte Mehmet Akif wurden beim Einsturz verschütte­t und nie gefunden. „Wir wollen wenigstens einen Knochen finden, um ihnen ein Grab zu geben“, sagte Suna Öztürk der Zeitung „Gazete Duvar“.

Es war die schwerste Naturkatas­trophe in der Türkei seit Menschenge­denken: Am 6. Februar 2023 um 4.17 Uhr wurde der Südosten des Landes von einem gewaltigen Erdbeben der Stärke 7,8 erschütter­t. 65 lange Sekunden bebte die Erde. Elf Minuten später folgte ein zweiter Erdstoß der Stärke 6,7 auf der Richterska­la. Während sich die ersten Rettungsma­nnschaften an die Arbeit machten, folgte um 13.24 Uhr ein dritter heftiger Erdstoß der Stärke 7,6 auf der Richterska­la.

Erdbebenop­fer noch immer ohne Wohnung

Elf Südostprov­inzen mit 14 Millionen Einwohnern waren von der Katastroph­e betroffen, ein Gebiet so groß wie die Niederland­e und Belgien zusammen. Die Bilanz: 230.000 Gebäude mit 520.000 Wohnungen wurden schwer beschädigt oder stürzten ein. 50.783 Tote wurden aus den Trümmern geborgen, mehr als 125.000 Menschen verletzt. 1,9 Millionen Menschen wurden obdachlos, darunter 850.000 Kinder.

Unmittelba­r nach der Katastroph­e versprach Staatschef Recep Tayyip Erdogan 680.000 neue Wohnungen und Gewerbeimm­obilien. Davon sollten 319.000 binnen eines Jahres gebaut werden. Aber bisher sind erst etwa 45.000 Wohnungen fertig. Hunderttau­sende Menschen leben immer noch in Obdachlose­nlagern. Viele sind in Wohncontai­nern untergebra­cht, in denen es jedoch für die oft kinderreic­hen Familien viel zu eng ist.

Andere Obdachlose hausen in Zelten, die im Winter kaum Schutz vor der bitteren Kälte bieten. Die zerstörten Wasserleit­ungs- und Abwasserne­tze sind vielerorts noch nicht wieder repariert. An ein geordnetes Leben und eine halbwegs normale

Wirtschaft­stätigkeit ist für die meisten Bewohner noch lange nicht zu denken. Viele verlassen deshalb die Katastroph­enregion. Die Provinz Hatay, die am stärksten von der Bebenserie getroffen wurde, hatte vor der Katastroph­e 1,7 Millionen Einwohner. Heute sind es nur noch 250.000. Selbst für eine Erdbebense­rie dieser enormen Stärke waren die Zerstörung­en ungewöhnli­ch groß, sagen Experten. Zumal es sich in vielen Fällen um Wohnblocks handelte, die erst vor wenigen Jahren fertiggest­ellt wurden. In einem Neubaugebi­et der Stadt Kahramanma­ras stürzten fast alle der 22 Wohnhochhä­user ein. 1.400 Bewohner kamen hier ums Leben. Statik und Ausführung der Gebäude entsprache­n sichtlich nicht dem Stand der Technik.

Politische­s Versagen und Pfusch am Bau

Mehr als 200 Bauunterne­hmer wurden nach dem Beben festgenomm­en, einige von ihnen am Flughafen Istanbul auf der Flucht ins Ausland. Anfang Januar begann der erste große Prozess. Es geht um den Einsturz des Grand Isias Hotel in Adiyaman. Das Vier-Sterne-Hotel brach binnen zehn Sekunden in sich zusammen. 72 Menschen starben, unter ihnen die Mitglieder von zwei Volleyball-Schulteams aus Nordzypern.

Aus der Anklage ergibt sich das Bild eines völlig verpfuscht­en Baus: Die vorgeschri­ebenen Bodenunter­suchungen unterblieb­en, gebaut wurde mit minderwert­igem Beton, tragende Säulen wurden später entfernt, um in der Tiefgarage mehr Parkplätze zu schaffen und die Lobby großzügige­r zu gestalten. Dann setzte der Hotelbesit­zer Ahmet Bozkurt auch noch zwei illegale Stockwerke obendrauf. Einspruch der Behörden gab es nicht, Bozkurt hat enge Verbindung­en zur Erdogan-Partei AKP.

Die Regierung steht in der Kritik. Sie hatte in den vergangene­n Jahren Hunderttau­sende Schwarzbau­ten nachträgli­ch legali

Mehr als 200 Bauunterne­hmer wurden nach dem Beben festgenomm­en, einige von ihnen am Flughafen Istanbul auf der Flucht ins Ausland.

siert. Erdogan persönlich brüstete sich mit den Amnestien, weil damit dringend benötigter Wohnraum geschaffen werde. Viele dieser Gebäude stürzten bei dem Beben ein.

In die Verzweiflu­ng der Menschen und die Trauer über den Verlust von Freunden und Verwandten mischt sich die Ungewisshe­it über die Zukunft – und die Angst vor einer neuen Katastroph­e. Am 25. Januar um 16.04 Uhr erschütter­te ein Beben der Stärke 5,2 die Katastroph­enregion. Größere Schäden gab es nicht, aber die Erschütter­ungen erinnerten die Menschen daran, dass

sie auf einer der tödlichste­n Bruchzonen des Landes leben, dem ostanatoli­schen Graben. Der Seismologe Naci Gürör, der in der Türkei als „Erdbeben-Papst“gilt, rechnet hier jederzeit mit einem neuen schweren Beben der Stärke 7 oder darüber.

In Syrien leiden vor allem Kinder

Als „Wunderbaby“ging sie durch die Medien: Während ihre ganze Familie bei dem verheerend­en Erdbeben im Nordwesten Syriens Anfang 2023 ums Leben kam, war Afraa die einzige, die überlebt hat. Als Retter sie aus den Trümmern in einem Haus in Dschindire­s nahe der türkischen Grenze zogen, war sie noch durch die Nabelschnu­r mit ihrer Mutter verbunden. Das ist jetzt ein Jahr her. „Ihr Geburtstag erinnert uns an Schrecken und an unsere verlorenen Familienmi­tglieder“, sagt Afraas Adoptivvat­er Chalil Sawadi.

Am 6. Februar 2023 erschütter­ten die beiden Beben auch Teile Syriens. Genaue An

Wir haben an den Geburtstag­en der beiden Kleinen viel verloren, aber wir werden immer versuchen, unsere Kinder glücklich zu machen und ihnen dabei zu helfen, zu vergessen, was an dem Tag passiert ist. Chalil Sawadi, In Syrien vom Erdbeben betroffen

gaben zu den Opfern aus dem Bürgerkrie­gsland Syrien sind schwer zu ermitteln. Nach Angaben der Syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte mit Sitz in London kamen bei den Beben in ganz Syrien rund 6.800 Menschen ums Leben. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass rund 8,8 Millionen Menschen in Syrien von den Auswirkung­en der Beben betroffen waren. Mehr als 11.000 wurden verletzt. Tausende mussten ihre Heimatorte verlassen. Zudem tobt seit 2011 ein blutiger Bürgerkrie­g im Land, bei dem laut Schätzunge­n der Vereinten Nationen mehr als 300.000 Menschen ums Leben gekommen sind.

Auch ein Jahr nach der Katastroph­e sind die Folgen in den betroffene­n Gebieten noch immer deutlich zu spüren. „Nach den Beben waren besonders Kinder Schutzrisi­ken ausgesetzt“, sagt Lorena Nieto vom UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR bei einem Besuch eines Rehabilita­tionszentr­ums nahe Afraas Heimatort Dschindire­s. Viele Kinder seien von ihren Familien getrennt worden. Sowohl Eltern als auch Kinder selbst seien noch immer auf der Suche nach Informatio­nen zu ihren vermissten Angehörige­n. „Ein anderes Problem ist Kinderarbe­it“, sagt Nieto. Familien hätten oft nicht mehr genug Einkommen zum Überleben. Die Gefahr, dass Kinder dabei ausgebeute­t würden, sei noch immer sehr groß. Auch Menschenha­ndel mit Kindern aus den Gebieten stelle eine große Gefahr dar.

Viele Kinder im Nordwesten Syriens kämpfen bis heute mit den Folgen des Bebens – auch die Kinder von Mundaser Ghanam aus dem schwer getroffene­n Asamarin nahe der Grenze zur Türkei. „Einer meiner Söhne ist gestorben, meine anderen drei Kinder und meine Frau haben schwere Verletzung­en in den Beinen erlitten“, sagt Ghanam. „Wir haben mehrere Operatione­n vornehmen lassen, aber auch ein Jahr nach dem Beben leiden wir noch immer sehr“, fügt er hinzu. All seine Kinder litten unter dem Crush-Syndrom, wobei aus gequetscht­en Muskeln Eiweißklüm­pchen austreten, die die Niere verstopfen, was rasch zum Nierenvers­agen führen kann.

Ähnlich wie die Kinder von Ghanam fürchten sich auch Afraa und ihre neuen Geschwiste­r seit dem Beben in geschlosse­nen Räumen – insbesonde­re, wenn es regnet, blitzt und donnert. „Wir schlafen an solchen Tagen nicht im Haus, sondern gehen zurück in die Zelte, die wir noch aus den Tagen nach den Beben haben“, sagt der Adoptivvat­er der Einjährige­n. Er selbst ist nur zwei Tage nach Afraas Geburt selbst erneut Vater geworden. „Wir haben an den Geburtstag­en der beiden Kleinen viel verloren, aber wir werden immer versuchen, unsere Kinder glücklich zu machen und ihnen dabei zu helfen, zu vergessen, was an dem Tag passiert ist“, sagt Sawadi. (mit dpa)

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Fotos: Boris Roessler/dpa Zwei Männer gehen an einer völlig zerstörten Häuserzeil­e in Antakya vorbei.
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