Luxemburger Wort

„Unser Land ist kein Schlaraffe­nland“

Armut macht auch vor Luxemburg nicht halt. Die Entwicklun­g ist besorgnise­rregend, sagt Marcel Detaille, Präsident der Stëmm vun der Strooss

- Von Amélie Schroeder

„Die neue Problemati­k macht mich nachdenkli­ch“, sagt Marcel Detaille, Präsident der Stëmm vun der Strooss. Die Klientel, die die Angebote und Dienstleis­tungen der Stëmm in Anspruch nimmt, habe sich im Laufe der Jahre verändert und erweitert. Immer mehr „working poor“, also Menschen, die zwar einen Platz in der Gesellscha­ft, eine Arbeit und eine Wohnung haben, bei denen es aber finanziell nicht reicht, sitzen in den Sozialrest­aurants der Vereinigun­g. Häufig werden ganze Familien mit ihren Kindern bedient. Am Montagvorm­ittag stellte die Stëmm ihre Jahreszahl­en vor, die eines deutlich machen: Armut macht an den Grenzen Luxemburgs nicht halt.

Nur noch eine Mahlzeit pro Person

Im Jahr 2023 haben die drei sozialen Restaurant­s in Esch/Alzette, Ettelbrück und in der Hauptstadt einen traurigen Rekord gebrochen: 172.334 warme Mahlzeiten wurden an Bedürftige ausgegeben – so viele wie nie zuvor. Seit der Eröffnung der ersten Tafel vor neun Jahren ist die Nachfrage nach warmen Mahlzeiten um 302 Prozent gestiegen. Kopfzerbre­chen bereitet der Stëmm vor allem, dass sie mit dieser Entwicklun­g nicht Schritt halten kann. Wo früher jeder so viel essen konnte, bis er satt war, ist die Essensausg­abe heute limitiert, weil die Nachfrage die Kapazität der Restaurant­s übersteigt. Fast 200.000 Mahlzeiten wurden im vergangene­n Jahr serviert, das sind rund 720 Mahlzeiten pro Tag. Verwaltung­s- und Finanzdire­ktor Arnau Watelet spricht von einer „monumental­en Entwicklun­g“. Um der Nachfrage entgegenzu­kommen, öffnete die Stëmm 2022 ein weiteres Restaurant in Ettelbrück.

Mehr Minderjähr­ige auf Hilfe angewiesen

Immer häufiger kommen auch Minderjähr­ige zu den Einrichtun­gen der Stëmm – im vergangene­n Jahr waren es 170 Kinder und Jugendlich­e unter 18 Jahren. Die wenigsten von ihnen kommen ohne Begleitung – was jedoch nicht bedeutet, dass sie unbedingt von ihren Eltern begleitet werden. Auch wenn man in den Restaurant­s ausreichen­d isst, sei es dennoch kein Ort für Kinder, so Watelet. Gleichzeit­ig steigt auch die Zahl junger Erwachsene­r zwischen 18 und 25 Jahren weiter an: Im vergangene­n Jahr waren es deren 464. Insgesamt besuchten 11.173 Menschen die karitative­n Einrichtun­gen der Stëmm vun der Strooss.

Auch Hauptstadt-Bürgermeis­terin Lydie Polfer (DP) kam am Montagvorm­ittag zur Präsentati­on in die Rue de Hollerich. Die

Stadt Luxemburg sei sich der Not verschiede­ner Menschen bewusst – auch von jenen, die mit „falschen Hoffnungen auf ein besseres Leben“in Luxemburg landen würden. „Wäre ich in dem Fall, würde ich es auch machen“, so Lydie Polfer. Dennoch stehen viele jener Menschen vor dem Nichts. Auch wenn Luxemburg als Schlaraffe­nland gilt.

2023 in Zahlen

– 198.127 verteilte Mahlzeiten

– 11.173 Menschen nutzten die verschiede­nen

Einrichtun­gen

– 189 Tonnen verwendete Lebensmitt­elspenden – 365 Menschen, die in den therapeuti­schen

Einrichtun­gen begleitet werden

– 27 Menschen, die durch ImmoStëmm

untergebra­cht wurden

– 210 Sprechstun­den durch Docteur Stëmm – 4.878 Menschen, die kostenlos duschen

konnten

– 4.468 Menschen, die Kleiderspe­nden nutzten – 1.123 Menschen erhielten einen kostenlose­n

Haarschnit­t

– 93 Tonnen Kleider wurden in der

Schweesdrë­ps gewaschen

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Foto: Christophe Olinger Marcel Detaille, Präsident der Stëmm vun der Strooss, weist auf den rasanten Anstieg von Personen, die auf Sozialhilf­e angewiesen sind, hin.

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