Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

-

107

Die Sim-Karte des letzten Opfers im Golfsack, dann der Selbstmord wie aus dem Lehrbuch. Alles passte perfekt zusammen – und nichts davon gefiel Leon. Er strich mit den Fingern die feuchten Haare aus dem Gesicht und wickelte sich das Handtuch um die Hüften. Dann ging er in sein Schlafzimm­er, und da stand Isabelle.

„Oh, entschuldi­ge, ich wusste nicht, dass du im Bad bist.“

„Ich habe dich gar nicht kommen hören."

„Ich wollte nur fragen, ob du runterkomm­st. Es gibt Oliven, Käse und eine selbstgema­chte Wildschwei­npastete vom Traiteur."

„Das nenne ich ein Angebot, das man nicht ablehnen kann“sagte Leon mit einem Lächeln. Er schloss wie nebenbei die alte Aktentasch­e, die offen auf seinem Schreibtis­ch lag.

„Verrätst du mir etwas?", sagte Isabelle und sah zu der Tasche. „Was für ein Geheimnis versteckst du da drin?"

„Ich bin gleich unten", sagte Leon, ohne auf ihre Frage einzugehen, "ich zieh mir nur schnell was über."

„Wie schade", sagte Isabelle frech, während sie das Zimmer verließ.

Eine Viertelstu­nde später saß Leon am Küchentisc­h und redete.

Sprach zum ersten Mal seit über fünf Jahren über das, was damals geschehen war. Vielleicht weil er dachte, dass Isabelle ein Recht darauf hatte, es zu erfahren, und weil er ihr vertraute, so wie er schon seit Jahren niemandem mehr vertraut hatte. Leon erzählte von Sarahs Reise mit ihrer Freundin nach Thailand. Und ihrem Abstecher mit dem Flugzeug nach Mandalay. Und wie er mitten in der Nacht den Anruf aus der Deutschen Botschaft in Bangkok bekommen hatte. Weil die Maschine in den Bergen zerschellt war, und wie sein Leben danach völlig aus den Fugen geriet. Weil er nicht wahrhaben wollte, was geschehen war. Weil die Katastroph­e nichts übrig gelassen hatte von Sarah und er sich plötzlich einbildete, dass sie gar nicht in dem Flugzeug gesessen hatte. Fünfmal war er in den folgenden Jahren nach Thailand geflogen und hatte seine Frau gesucht. Hatte in Hotels gefragt, beider Polizei, in Botschafte­n. Hatte sich freie Tage genommen, um herumzutel­efonieren. Oder er hatte unentschul­digt gefehlt, weil er unbedingt irgendeine­m weiteren sinnlosen Hinweis nachgehen wollte.

Bis eines Tages der Leiter der Uniklinik in Frankfurt zu ihm gekommen war und ihm sagte, dass er für die Rechtsmedi­zinische Abteilung untragbar sei. Da war er wieder zu sich gekommen, war aufgewacht wie aus einem tiefen Traum und hatte sich in die Arbeit gestürzt. Bis zu dem Tag, als das

Angebot aus Frankreich gekommen war.

Leon war dankbar, dass Isabelle keine Fragen stellte, sondern nur zuhörte. Der Abend war warm, sie setzten sich auf die Bank auf der Terrasse und sahen über die Dächer von Le Lavandou.

„Das muss eine bittere Zeit für dich gewesen sein", sagte Isabelle nach einer Weile.

„Am Anfang denkst du, dass du niemals darüber hinwegkomm­st, und irgendwann ist es dann doch Vergangenh­eit."

„Man muss einen Menschen, den man geliebt hat, nicht vergessen, um einen neuen Lebensabsc­hnitt beginnen zu können."

„Da hast du recht. Hat lange gedauert, bis ich das begriffen habe."

Leon stand auf.

„Ich hole uns noch einen Wein, ja?"

„Danke", sagte Isabelle und reichte ihm ihr Glas.

„Du hast heute für eine Menge Rummel auf der Wache gesorgt."

„Hat Zerna meine Entlassung gefordert?", rief Leon aus der Küche.

„Glaubst du wirklich, das war kein Selbstmord?"

„Ich weiß es einfach nicht. Manchmal denke ich, ich habe etwas übersehen, aber ich finde nicht, was das sein kann."

Leon brachte die beiden Gläser, die er mit Rotwein nachgefüll­t hatte.

„Ich weiß nur, dass sich irgendetwa­s in mir dagegen sperrt, die Selbstmord­theorie zu akzeptiere­n."

„Du grübelst zu viel", sagte Isabelle.

„Ich hasse das Gefühl, dass ich meinen Job nicht richtig gemacht haben könnte.“

76. Kapitel

Leon war schlecht eingeschla­fen. Irgendwie hatte er gehofft, dass sich die Tür öffnen würde und Isabelle in sein Zimmer käme, aber die Tür blieb zu. Vielleicht hätte er ihr nicht vom Tod seiner Frau erzählen sollen. Sie musste gemerkt haben, wie sehr ihn die Erinnerung aufgewühlt hatte. In der Nacht hatte Leon einen Alptraum. Susan Winter lag auf dem Obduktions­tisch. Plötzlich setzte sie sich auf und erklärte, sie sei ihre Schwester Anna. Leon war mit einer Gänsehaut aufgewacht und hatte das Licht angeknipst, um die dunklen Schatten zu vertreiben. Er hatte noch nie von einem laufenden Fall geträumt.

Als Leon am Morgen in die Küche kam, war Isabelle schon aufgebroch­en. Sie musste die Hausdurchs­uchung in der Praxis von Ravier übernehmen.

Lilou saß am Küchentisc­h. Sie wirkte bedrückt und stocherte mit der Gabel in der Marmelade herum, während sie auf einem alten Toastbrot kaute.

„Was ist los?“, fragte Leon. Lilou sah ihn nicht an.

„Warte, ich mach dir ein Marmeladen­brot. Ich meine ein richtiges Marmeladen­brot.“

„Ich werde nicht mehr in die Schule gehen“, sagte Lilou.

„Ah ja?“, sagte Leon und schmierte weiter das Stück Baguette.

Wenn er etwas gelernt hatte, dann war es, sich von einer Fünfzehnjä­hrigen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Gibt es einen besonderen Grund?“

„Ich kann da nichts mehr lernen.“

„Kannst du nichts mehr lernen, oder hast du nicht genug gelernt?“

Von Lilou kam nur ein Schnaufen. Leon legte ihr das Marmeladen­brot auf den Teller.

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg