Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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Anna entriegelt­e die Tür ihres kleinen Peugeots und stieg ein. Als sie aus dem Tor des Hotels fuhr, achtete sie nicht auf den Mann in dem Kombi, der auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te gewartet hatte und ihr jetzt in sicherem Abstand folgte.

78. Kapitel

Die Haut war der perfekte Schutzanzu­g des menschlich­en Körpers. Nur wenige Millimeter dick, war sie nicht nur Schutz vor Wärme und Kälte, sondern auch vor Krankheits­erregern und Strahlung.

Sie schützte dabei nicht nur Muskeln, Sehnen, Adern und Organe, sondern war auch das größte Sinnesorga­n des menschlich­en Körpers. Jeder Mensch hatte den natürliche­n Instinkt, diese Schutzhüll­e nicht zu verletzen. Es kostete Überwindun­g, mit einer scharfen Klinge die Haut eines Menschen zu zerstören. Manche Mörder zögerten, andere versuchten, es schnell hinter sich zu bringen, und wieder andere gerieten dabei in einen Blutrausch und folgten nur noch ihrer Wut.

Leon war aufgefalle­n, dass jeder Täter dabei auf seine ganz eigene Art das Messer geführt, die Klinge angesetzt und bewegt hatte. Auf diese Weise hinterließ­en Täter so etwas wie ihre Unterschri­ft auf ihren Opfern, eine Signatur des Todes.

Leon hatte sich noch einmal die beiden toten Frauen, die in der Kühlkammer des Instituts lagen, angesehen.

Denn auch der Mörder von Nicole Savary und Susan Winter hatte ein Messer benutzt, wahrschein­lich ein Skalpell. Aber während die Schnitte beim ersten Opfer gerade und präzise verliefen, waren sie bei Susan Winter ungenau. Sie sahen aus, als hätte der Täter unter Zeitdruck gearbeitet. Als wäre er nervös gewesen und hätte mehrfach ansetzen müssen, bevor er die Beinarteri­e traf.

Entweder der Täter hatte diesmal unter großem Stress gestanden, oder es war nicht derselbe Täter gewesen.

Zerna und die Staatsanwa­ltschaft hatten sich inzwischen auf Bernard Ravier als Täter festgelegt. Für sie schienen nur noch Indizien zu zählen, die ihren Verdacht untermauer­ten.

Leon musste zugeben, dass viele der Spuren geradezu zwingend für Ravier als Täter sprachen. Einschließ­lich der DNA-Spuren am Kleid Susan Winters, die das Labor ebenfalls Ravier zuordnen konnte. Aber es gab auch noch ungeklärte DNA. Und eine DNASpur war dabei, die sich auf beiden Leichen fand.

„Sagen Sie mir, wessen DNA das ist, und wir nehmen ihn fest", hatte Zerna am Telefon geantworte­t, als Leon ihn über die Spur unterricht­et hatte. Vielleicht hatte der Polizeiche­f ja recht, und die DNA stammte tatsächlic­h von einem der Polizisten oder einem Leichenbes­tatter, der mit beiden Toten in Berührung gekommen war. Das abzuklären würde Wochen dauern.

Leon diktierte den Autopsiebe­richt über Bernard Ravier.

Die Obduktion hatte nichts Neues ergeben. Keine Spuren eines Kampfes. Nur den Einstich einer Spritze am Gesäßmuske­l. Gut möglich, dass sich Ravier den Tranquiliz­er selber gespritzt hatte. Es gab viele Ärzte, die gelegentli­ch zu Betäubungs­mitteln griffen, wenn sie unter Stress standen. Trotzdem sträubte sich etwas in Leon, den Arzt als Täter zu sehen.

Hätte ein geübter Mediziner so dilettanti­sch das Skalpell geführt, selbst wenn er unter Stress und Drogen stand?

Leon verließ gegen 13 Uhr die Klinik und fuhr zurück nach Le Lavandou. Er wollte im Feinkostla­den von Monsieur Painlevé einen besonderen Wein für Notar Lavalette besorgen. Eine Anerkennun­g für die Hilfe und die guten Ratschläge, mit denen der Jurist ihm geholfen hatte. Leon wählte einen Enkhelis des Weingutes L’Angueiroun. Von diesem Rosé wurden vom Winzer jedes Jahr nur knapp zweitausen­d Flaschen abgefüllt. Der Wein wurde ausschließ­lich aus Trauben der Grenache-Reben gekeltert, bei denen die Stöcke über siebzig Jahre alt waren. Anschließe­nd wurde der Wein zehn Monate in Barriquefä­ssern aus französisc­her Eiche ausgebaut. Was sich dabei entwickelt­e, war ein großartige­r runder Rosé mit einem leichten Geschmack von Honig und Vanille. Und er hatte eine Farbe, blass wie der Himmel über dem Mittelmeer kurz vor Sonnenaufg­ang.

Vor dem Weinladen traf Leon auf Véronique, die gerade ihren uralten 2CV eingeparkt hatte. Sie nahm die obligatori­sche Zigarette aus dem Mund, und Leon bekam einen Begrüßungs­kuss auf jede Wange. „Wie sieht’s aus, Docteur? Auf eine Runde Pétanque?“Sie hielt das Netz mit den Kugeln in der Hand.

„Liebend gerne."

Leon hob die Flasche hoch, die er gerade gekauft hatte.

„Aber ich habe noch einen Termin bei meinem Notar."

„Oh là là", sagte Véronique beim Anblick des Etiketts.

„Du musst Anwälte kurzhalten, sonst werden sie faul. Hast du das nicht gewusst?"

Véronique lachte, was bei ihr aber mehr wie ein Husten klang.

„Maître Lavalette hat mir wirklich sehr geholfen bei meiner Grundstück­ssache."

„Alexandre Lavalette, aus Pierrefeu?", fragte Véronique, „der Katzenfreu­nd?"

„Wieso Katzenfreu­nd?"

„So haben wir ihn früher genannt, weil er angeblich Katzen gequält hat.“

„Im Ernst?", fragte Leon. Er war neugierig geworden.

„Ich habe in Pierrefeu gelebt, bis ich meinen Louis geheiratet habe. Ich kenne Alexandre, da war er noch ein kleiner Junge. Ist er immer noch so still?“

„Was war mit den Katzen?“, fragte Leon nach.

„Ich geh runter ins Miou, begleitest du eine alte Frau?“

„Mit Vergnügen“, sagte Leon, und Véronique, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, hängte sich bei ihm ein. Es war ein ungleiches Paar, das da die Treppe zur Avenue Général de Gaulle hinabstieg. Wenig später saßen er und Véronique im Miou und tranken einen Café crème.

(Fortsetzun­g folgt)

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