Ein Seminar in Antisemitismus
Ein jüdischer Student der Freien Uni Berlin wird von einem Kommilitonen ins Krankenhaus geprügelt. Der Präsident der Universität reagiert spät und defensiv, die Wissenschaftssenatorin verständnislos
2.249 geteilt durch 109 ist eine einfache Rechnung. Heraus kommt 20,6. Und das ist die Zahl antisemitischer Straftaten pro Tag in Deutschland zwischen dem 7. Oktober, als Hamas-Terroristen aus dem palästinensischen Gaza-Streifen zum Massaker in Israel einfielen, und dem 25. Januar. Von da sind es noch acht Tage, bis der jüdische Student Lahav Shapira in Berlin nach einem Barbesuch krankenhausreif geprügelt wird – mutmaßlich von einem Kommilitonen.
Lahav Shapira studiert Lehramt an der Freien Universität (FU). Und engagiert sich dort gegen pro-palästinensische Aktionen wie die Besetzung eines Hörsaals Mitte Dezember. Als Lahav Shapira an diesem Tag den Raum betreten will, gibt es eine Rangelei, weil die Besetzer ihn daran hindern. In den sozialen Medien kursieren seitdem Fotos mit Texten, die ihn bezichtigen, ein Aggressor und Provokateur zu sein, dazu ein Video, das zeigt, wie Lahav Shapira versucht, ein pro-palästinensisches Statement von einer Wand zu entfernen und dabei bedrängt wird.
Der Angriff vom Freitagabend ist von anderer Qualität. Lahav Shapira erleidet dabei Brüche seiner Gesichtsknochen und Nase, dazu eine Hirnblutung; in der Charité wird er operiert. Seine Begleiterin berichtet dem Studenten-Portal der „Zeit“, der Angreifer habe Lahav Shapira das Abreißen pro-palästinensischer Plakate vorgeworfen und ihn geschlagen. Die Polizei schreibt in ihrem Tagesbericht auch von Tritten ins Gesicht.
Untätigkeit des FU-Präsidenten
Lahav Shapiras Familie hat schreckliche Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland. Sein Großvater Amitzur Shapira wurde beim Olympia-Attentat in München 1972 auf die israelische Nationalmannschaft von der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ermordet. Der Vater seiner Mutter Tsipi Lev überlebte als einziger seiner Familie die Shoah. Sein Bruder Shahak Shapira, Künstler und Satiriker, wurde in der Neujahrsnacht 2015 in der Berliner U-Bahn von jungen Männern angegriffen und verletzt, als er sie aufforderte, nicht weiter „Fuck Israel! Fuck Juden!“zu grölen. Und Lahav Shapira selbst wurde als Kind in Laucha in Sachsen-Anhalt, wohin seine Mutter mit ihren Söhnen aus Israel zu ihrem neuen Partner gezogen war, von einem jungen Rechtsextremisten als „Judenschwein“beschimpft und zusammengeschlagen.
Nun erzählt er im Krankenhaus einer israelischen Journalistin, er und andere jüdische und israelische Studenten hätten sich „schon oft an den Direktor der Universität gewendet“mit der Bitte, „gegen Antisemitismus zu arbeiten“– vergebens. An der FU
herrsche „eine sehr aggressive Stimmung“, erzeugt durch „Antisemiten und Israelhasser“.
Lahav Shapira ist mit seiner Klage über Untätigkeit des FU-Präsidenten nicht allein. Die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) schreibt einen offenen Brief an FU-Präsident Günter Ziegler, der zwei Tage nach der Tat von der „Jüdischen Allgemeinen“veröffentlicht wird, am Mittwoch auch von der „Welt“. Die JSUD wirft Ziegler vor, Antisemitismus auf dem Campus zu tolerieren und keinen Unterschied zu machen zwischen externen „Gruppen“aus der pro-palästinensischen Extremisten-Szene, die bei der Hörsaal-Besetzung agiert hätten, und dem bislang ausschließlich friedlichen Protest der Gruppe „Fridays for Israel“. Außerdem, klagt die JSUD, habe Ziegler ein für 25. Januar vereinbartes Gespräch von einem Tag auf den anderen abgesagt und den versprochenen neuen Termin bislang nicht genannt.
Spätes Statement
Tatsache ist, dass Ziegler bis Montagmittag braucht für ein „Statement der Freien Universität zum mutmaßlich antisemitisch motivierten gewaltsamen Angriff auf einen jüdischen Studenten“. Da hat den Fall bereits der Polizeiliche Staatsschutz des Landeskriminalamts übernommen. In Zieglers Stellungnahme steht: „Antisemitismus jeglicher Form, Rassismus und Diskriminierung werden nicht geduldet.“
Bei der JSUD sehen sie das anders. Die FU stehe „seit Monaten für Offenheit und Toleranz gegenüber Antisemiten“, schreibt sie. Und fordert von Ziegler: „Hören Sie endlich auf, die Dinge zu relativieren oder zu leugnen. Ziehen Sie endlich Konsequenzen gegen die Antisemiten!“Nachdem der Tatverdächtige, 23 Jahre alt, wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung vernommen worden ist, teilt die Staatsanwaltschaft am Dienstag mit: „Ein antisemitisches Tatmotiv scheint nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen nicht fernliegend.“
FU-Präsident Ziegler kündigt in seinem „Statement“an, falls der Täter FU-Student sei, werde die Uni „umgehend die möglichen juristischen Schritte … prüfen und gegebenenfalls ein Hausverbot durchsetzen“. Exmatrikulieren könnte die FU den Tatverdächtigen nicht, selbst wenn sie es wollte: Die bis Februar 2023 amtierende rotgrün-rote Koalition hat diese Möglichkeit im Herbst 2021 aus dem Berliner Hochschulgesetz gestrichen. Inzwischen ist die SPD zur Juniorpartnerin der CDU geschrumpft – und die will das sogenannte „Ordnungsrecht“nun wieder einsetzen.
Die sozialdemokratische Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra aber erklärt am Dienstagabend, „Exmatrikulation aus politischen Gründen“lehne sie „grundsätzlich ab“. Zeitgleich nennt der Vorsitzende des
Zentralrats der deutschen Juden, Joseph Schuster, sie im konkreten Fall „alternativlos“, denn: „Wer einen jüdischen Kommilitonen krankenhausreif schlägt, weil er Jude ist, der hat an einer deutschen Universität nichts zu suchen.“FU-Präsident Ziegler hat nun „den Eindruck“, dass drei Monate Hausverbot als Maximalsanktion, „möglicherweise für die Situationen, die wir haben, nicht reichen wird“.
„Historischer Höchststand“
„Bedrückend, aber auch nicht überraschend“nennt Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias) den Angriff auf Lahav Shapira. In den sozialen Medien „für sein Engagement gegen Antisemitismus markiert“, sei er nun überall und von allen identifizierbar. „Und Antisemitismus beinhaltet in der Konsequenz immer Gewalt und Vernichtung.“
Dass in Berlin der Hass auf Juden zunimmt, wenn im Nahen Osten die Gewalt eskaliert, und mit ihm die antisemitischen Angriffe, beobachtet Steinitz, seit die Rias 2015 ihre Arbeit begann. So eskaliert aber wie nach dem 7. Oktober seien die Angriffe noch nie. „Historischer Höchststand“, sagt Steinitz.
Gestern Mittag skandieren vor der Mensa der FU, aber auf neutralem Gelände, ProPalästina-Aktivisten bei einer angemeldeten Demonstration „Free, free Palestine!“. „From Hamas!“ergänzen, aus sicherer Distanz, Gegendemonstranten, die eine IsraelFlagge mitgebracht haben.
Und bei X, früher Twitter, fragt der jüdische Pianist Igor Levit in Richtung Wissenschaftssenatorin Czyborra, die findet, „bei internationalen Studierenden“gebe es eben „auch mal Konflikte“: „Soll man auf sowas eigentlich sarkastisch, ironisch, zynisch, wütend, verbal aggressiv, entsetzt, erschüttert, verletzt, enttäuscht oder gar nicht reagieren?“
: Hören Sie endlich auf, die Dinge zu relativieren oder zu leugnen. Ziehen Sie endlich Konsequenzen gegen die Antisemiten! Die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD)